Süddeutsche Zeitung

Forum:Ungleicher Kampf

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Warum es für Entwicklungsländer viel schwieriger ist, gegen die Pandemie und ihre Folgen vorzugehen.

Gastbeitrag von Christian R. Proaño

Die Covid-19-Pandemie wird unsere Welt zweifellos sowohl wirtschaftlich als auch sozial und politisch in den kommenden Jahren in einer Art und Weise prägen, wie sie nur mit der Großen Depression der 1930er-Jahre vergleichbar ist. Und obwohl sie eine große Herausforderung für alle Gesellschaften darstellt, offenbart sie auch auf dramatische Weise die abgrundtiefen Unterschiede zwischen den sogenannten fortgeschrittenen Volkswirtschaften und den Entwicklungsländern. Während die meisten fortgeschrittenen Volkswirtschaften in der Lage sind, fiskalische Stimuli von erheblicher Dimension zu verabschieden, sind der finanzielle Spielraum und das allgemeine Potenzial von Entwicklungsländern und einkommensschwachen Ländern weitaus begrenzter. Ein Blick auf die aktuelle Situation der lateinamerikanischen Region kann gut als Prädiktor dafür dienen, was in den nächsten Monaten in anderen Entwicklungsländern zu erwarten ist.

Das Wirtschaftswachstum in der Region Lateinamerika und Karibik (LAK) ist in den vergangenen Jahren zum Stillstand gekommen: Im Zeitraum von 2014 bis 2019 war das Wachstum in der LAK-Region auf dem niedrigsten Niveau seit den Fünfzigerjahren. Mit dieser nahezu nicht vorhandenen wirtschaftlichen Dynamik und dem gleichzeitigen globalen Wirtschaftsabschwung verschärften sich die zahlreichen strukturellen Probleme der Region, wie die hohe wirtschaftliche und soziale Ungleichheit, die mangelhafte Gesundheitsversorgung und soziale Eingliederung. Diese Entwicklungen wurden durch die venezolanische Migrations- und Flüchtlingskrise weiter angeheizt. Zwischen 2015 und 2018 musste eine erschreckend große Zahl von mehr als vier Millionen Venezolanern aus ihrem Land fliehen und ließ sich in den benachbarten Ländern nieder.

Im Jahr 2008 waren die LAK-Länder aufgrund ihrer soliden Finanzlage und ihres relativ niedrigen Verschuldungsgrades in einer viel besseren Position, um die negativen makroökonomischen Auswirkungen der globalen Finanzkrise zu bewältigen. Dahingegen wird die aktuelle Finanzlage der Region mit einem durchschnittlichen Haushaltsdefizit von etwa -3 Prozent des BIP und einer durchschnittlichen Staatsverschuldung von 62 Prozent des BIP im Jahr 2019 die Fähigkeit der Region stark beeinträchtigen, die Pandemie zu bewältigen. Zusätzlich werden die jüngsten erheblichen Kapitalabflüsse aus LAK-Ländern sowie aus zahlreichen anderen Schwellen- und Entwicklungsländern die Finanzlage für viele weiter verschlechtern.

Aber das ist nicht der einzige Grund, warum die Entwicklungsländer von der Corona-Krise härter getroffen werden. Die in den Industrieländern beschlossenen Eindämmungsmaßnahmen sind in der LAK-Region und in den Entwicklungsländern nur teilweise durchsetzbar. Insbesondere liegen die Intensivpflegekapazitäten in den Entwicklungsländern dramatisch hinter denen der Industrieländer zurück. So gibt es in Mexiko nur 1,2 Intensivbetten pro 100 000 Einwohner, in Deutschland sind es etwa 30. Außerdem decken die Gesundheitssysteme in der LAK-Region und in der großen Mehrzahl der Entwicklungsländer nur einen Bruchteil der Bevölkerung ab (in der Regel diejenigen, die regelmäßig beschäftigt sind). Das niedrige Gesundheitsniveau, insbesondere der Ärmsten, kann außerdem als Katalysator für die Covid-19-Pandemie wirken.

Eine zunehmende Verstädterung in Entwicklungsländern, mit Megastädten mit hoher Bevölkerungsdichte und schlechter Sanitär- und Gesundheitsversorgung (Henderson, 2002), kann dazu führen, dass Maßnahmen zur sozialen Distanzierung weniger wirksam, wenn nicht sogar nutzlos sind. Die apokalyptischen Szenen, die sich im April in der ecuadorianischen Stadt Guayaquil abspielten, wo die Krankenhäuser und Krematorien wegen der hohen Zahl an Toten zusammenbrachen, könnten sich somit in Megastädten wie Neu-Delhi oder Lagos wiederholen.

Im Gegensatz zu fortgeschrittenen Volkswirtschaften, wo relativ großzügige Leistungen bei Arbeitslosigkeit zur Stabilisierung der Gesamtnachfrage beitragen können, existieren solche Absicherungssysteme nur in wenigen Ländern der LAK-Region. Darüber hinaus arbeitet ein großer Teil der erwerbstätigen Bevölkerung in LAK-Ländern im informellen Sektor und hat somit keinerlei Sicherheitsnetz. Da viele dieser Menschen nahe am oder sogar unterhalb des Existenzminimums leben, werden sie die Eindämmungsmaßnahmen nur begrenzt auf Dauer befolgen können.

Auch die mittelfristigen Folgen dieser Maßnahmen dürfen nicht vergessen werden. Der eingeschränkte Zugang zum Internet kann etwa zu weitreichenden Auswirkungen der Schulschließungen und der Ausgangssperren führen und die bereits dramatische wirtschaftliche und soziale Ungleichheit in der Region noch vergrößern. Ausgangssperren haben in ärmeren Gesellschaften viel höhere wirtschaftliche und soziale Kosten. Es liegt auf der Hand, dass bewährte makroökonomische Stabilisierungsmaßnahmen wie die viel gepriesene deutsche Kurzarbeit in der großen Mehrzahl der Entwicklungsländer nicht praktikabel sind. Alternative Systeme der sozialen Distanzierung auf der Basis günstiger und wiederholter massiver Corona-Tests könnten mit Unterstützung der EU eine umsetzbare Strategie sein.

Die mittelfristige Erholung der Entwicklungsländer wird jedoch hauptsächlich von ihrer Fähigkeit geprägt sein, sich in der Nach-Corona-Welt behaupten zu können. Diese wird vor allem von zwei Faktoren bestimmt werden: Zugang zu neuen und nachhaltigen Technologien durch langfristige ausländische Direktinvestitionen und günstigere Handelsbedingungen auf den internationalen Märkten. Dies liegt nicht nur im Interesse der Entwicklungsländer, sondern auch im Interesse Europas, der USA und der übrigen fortgeschrittenen Volkswirtschaften. Makroökonomische Stabilität ist ein entscheidender Faktor für politische Stabilität; zunehmende wirtschaftliche und soziale Ungleichheit führen zu einer stärkeren politischen Polarisierung. Gleichzeitig kann die Einschränkung von Grundrechten, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen, zu verstärktem Autoritarismus in Ländern führen, in denen die demokratischen Institutionen bereits geschwächt sind, wie etwa in Ungarn, den Philippinen, Brasilien und den USA. Die Zeit wird knapp, nicht nur für Lateinamerika.

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SZ vom 27.06.2020
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