Forum:Strukturreformen zahlen sich aus

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Luca Paolazzi (li.) ist Direktor des Centro Studi Confindustria in Rom. Michael Hüther ist seit 2004 Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln. (Foto: oh, dpa)

Ein Vergleich der Entwicklung von Deutschland und Italien zeigt, wie wichtig gute Lohnpolitik ist.

Von Michael Hüther und Luca Paolazzi

Wenn es um die wirtschaftliche Zukunft von Europa geht, dann schauen viele zuerst auf das Verhältnis von Deutschland und Frankreich. Doch mindestens genauso wichtig sind die wirtschaftlichen Beziehungen von Deutschland und Italien. Beide sind durch einen bedeutenden Industriesektor geprägt, der weithin als Schlüssel für mehr Wachstum angesehen wird. Das ist bedeutsam, weil sich die Dynamik in den Schwellenländern abschwächt und die Probleme in den entwickelten Ökonomien anhalten.

Die europäische Politik betrifft es besonders, da sich das Pro-Kopf-Einkommen in Europa seit der Krise 2009 nicht mehr angleicht und die wirtschaftsstrukturellen Divergenzen ausgeprägter sind als in der Vergangenheit. Die EU-Kommission will bis 2020 den Industrieanteil von derzeit gut 15 Prozent auf 20 Prozent erhöhen. Um abzuschätzen, um welche wirtschaftlichen Potenziale und politischen Herausforderungen es dabei geht, ist ein vergleichender Blick auf Deutschland und Italien lohnend.

Die beiden Volkswirtschaften sind, auch wenn die Unterschiede zuletzt deutlicher wurden, stärker industrialisiert als die anderen großen EU-Staaten, in beiden Ländern ist die Verbundproduktion aus Industrie sowie Dienstleistungen stark und überdurchschnittlich ausgeprägt. Beide gehören aber zu den wachstumsschwächsten Ökonomien: Das jahresdurchschnittliche Wachstum seit 1995 betrug in Italien 0,4 Prozent und in Deutschland 1,3 Prozent. Beide haben nahezu ein identisches demografisches Profil, betrachtet man die Relation der Erwerbspersonen zu den älteren Menschen über 65 Jahren. Und beide sind durch ein Wohlstandsgefälle geprägt, in Deutschland von West nach Ost, in Italien von Nord nach Süd.

So weit, so ähnlich. Doch während sich bis 2005, unter Berücksichtigung der Kaufkraft, das Pro-Kopf-Einkommen in beiden Ländern nahezu parallel und auf vergleichbarem Niveau entwickelt hat, hat sich seit 2007 ein immer größer werdender Keil gebildet. Zuletzt, im Jahr 2014, erreichte das Jahreseinkommen je Einwohner in Deutschland 45 900 US-Dollar und in Italien 35 500 US-Dollar. Es stagniert in Italien seit 2007, während es in Deutschland seitdem - nur kurz von der Krise aufgehalten - sogar stärker gestiegen ist als in dem Jahrzehnt zuvor.

Auch wenn sich in beiden Volkswirtschaften der Strukturwandel in der Landwirtschaft, im verarbeitenden Gewerbe, der Bauindustrie und bei den Dienstleistungen in den vergangenen 20 Jahren verlangsamt hat, so war er doch in Italien deutlich ausgeprägter. Er hat zu einem spürbaren Bedeutungsverlust der Industrie beigetragen, und zwar von einem Anteil von knapp 21 Prozent an der Bruttowertschöpfung auf 15,5 Prozent. In Deutschland ist der Anteil nahezu konstant geblieben (22,8 gegenüber heute 22,6 Prozent). Durchaus als Nachteil erweist sich dabei die durchschnittlich deutlich geringere Unternehmensgröße in Italiens Industrie. Innovationskraft und Weltmarktfähigkeit werden dadurch behindert.

Unterschiede zeigen sich auch unter der Oberfläche der Sektoren. Im Dienstleistungsbereich haben Banken und Versicherungen, Immobilien sowie Handel und Tourismus in Italien eine größere Bedeutung, in Deutschland hingegen unternehmensnahe Dienstleister sowie Informations- und Kommunikationstechnologien. Innerhalb des verarbeitenden Gewerbes ist der Maschinen- und Anlagenbau zusammen mit der Chemie in Deutschland fast doppelt so bedeutend wie in Italien, viermal so bedeutend ist der Verkehrsbereich.

Die Agenda 2010 hat die Wirtschaftspolitik wieder handlungsfähig gemacht

Fragt man nach den Ursachen der Divergenzen, die beispielhaft für die Entwicklung in der gesamten EU seit der großen Krise zu sehen sind, dann richtet sich der Fokus auf die Wirtschaftspolitik und die Lohnpolitik. Deutschland hat in beiden Feldern vor gut zehn Jahren einen Kurswechsel vollzogen. Die Agenda 2010 hat die Wirtschaftspolitik wieder handlungsfähig gemacht, die Tarifpolitik, die sich an der Beschäftigung orientiert und betriebliche Abweichungen erlaubt, steht für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit.

Die Beschäftigung steigt dadurch seit 2005 kontinuierlich, dies hat die Bundesrepublik erstmals seit Jahrzehnten mit dem Arbeitsmarkt an die europäische Spitze gebracht, zugleich hat die Reformpolitik ganz wesentlich dazu beigetragen, den Staatshaushalt auszugleichen. Italien steht demgegenüber erst am Beginn einer Phase, in der sich die reformpolitischen Anstrengungen der letzten Jahre auszuzahlen beginnen. Die Arbeitsmarktreformen, insbesondere die verbesserten Bedingungen für neue Arbeitsplätze, zeigen erkennbar Wirkung. Die Neuordnung der föderalen Befugnisse, die Reform des Wahlgesetzes, der öffentlichen Verwaltung und des Bildungssystems werden erst noch ihre Effekte zeigen. Der Primärüberschuss im Staatshaushalt, also der Überschuss ohne Zinszahlungen, erreicht mit 1,7 Prozent fast das deutsche Niveau von 2,2, Prozent, während die meisten anderen europäischen Staaten Primärdefizite ausweisen.

Die Reformstrategien für Deutschland vor einem Jahrzehnt und Italien heute ähneln sich sehr: Die Sozialsysteme müssen an die Alterung der Gesellschaft angepasst werden, ebenso ist es notwendig, die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Unterschiede ergeben sich im Detail: So muss Italien stärker die Innovationskraft und die Globalisierung der Unternehmen befördern sowie das Bildungssystem besser auf die Bedürfnisse der Wirtschaft ausrichten. Hohe Energiekosten und Investitionslücken in der Infrastruktur betreffen beide Länder.

Auch die Arbeitskosten erweisen sich als Herausforderung. Während Deutschland in den Jahren von 2000 bis 2007 richtig Boden gutgemacht hat und nun wieder verstärkt darauf achten muss, stiegen die Lohnstückkosten in Italien kontinuierlich an und haben dazu beigetragen, dass die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber vielen anderen Volkswirtschaften zurückging.

In beiden Volkswirtschaften geht es nun darum: Die Arbeitskosten müssen sich eng am Zuwachs der Produktivität orientieren, die Beschäftigungssituation gering qualifizierter Personen ist ein hartnäckiges Problem, und die Liberalisierung der Dienstleistungssektoren lässt noch viel Spielraum. Zudem sollte Italien die Steuerlast reduzieren und Deutschland Existenzgründungen erleichtern. Beide Volkswirtschaften können dabei von der Einsicht zehren, dass strukturelle Reformen sich lohnen, und zwar umso eher umso nachhaltiger. Aber ebenso gilt: Nachlassen im Reformeifer wird schnell bestraft.

© SZ vom 21.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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