Süddeutsche Zeitung

Forum:Soziale Tauschgeschäfte

Eine nachbarschaftliche Sharing Economy könnte die Wohnungsnot lindern und den Mangel an Zuwendung, unter dem immer mehr ältere Menschen in den Städten leiden. Es gibt schon Beispiele. Es müssen mehr werden.

Von Sebastian Gallander

Früher konkurrierten die Autohersteller Daimler und BMW um die besseren Verkaufszahlen. Heute kooperieren sie für ein besseres Carsharing. Ikea denkt schon über Leihmöbel nach, und bei Tchibo kann man Kleidung inzwischen mieten. Die Sharing Economy verändert jedoch nicht nur große Teile der Wirtschaft. Sie bietet auch einen möglichen Lösungsansatz für zwei große Probleme unserer Gesellschaft.

Zum einen die Wohnungsnot. Vor allem in den großen Städten leiden immer mehr Menschen darunter, kaum noch eine bezahlbare Wohnung zu finden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warnte vor Kurzem sogar, es gäbe einen Zusammenhang zwischen diesem Thema und der Demokratie. Besonders hart trifft es Menschen mit geringen Einkommen. Allein für studentisches Wohnen stiegen die Durchschnittsmieten, laut einer aktuellen Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft, seit 2010 in allen untersuchten Städten an - in München und Berlin sogar um über 50 Prozent. Unserer Gesellschaft mangelt es jedoch nicht nur an Wohnung, sondern auch an Zuwendung. Und zwar an beiden Enden des Lebens.

Laut Statistischem Bundesamt lebt rund ein Drittel der Menschen ab 65 Jahren allein - bei den Hochbetagten, ab 85 Jahren, ist es sogar mehr als die Hälfte. Viele von ihnen sind oft einsam. Sie sehen häufig den ganzen Tag lang keinen einzigen Menschen und blühen auf, wenn sie jemand besucht, sie zum Spazierengehen abholt oder einfach nur zuhört. Da es künftig immer mehr ältere Menschen geben wird, wird sich dies weiter verschärfen. Das Pflegesystem, das ohnehin völlig überlastet ist, kann dies jedoch nicht bewältigen.

Ähnlich ist es im Bildungssystem mit den Kindern, die ein bisschen mehr Aufmerksamkeit brauchen. Schließlich hängt der Bildungsweg eines Kindes in Deutschland stark davon ab, wie gut es seine Eltern hierbei unterstützen können. Viele Eltern können dies jedoch nicht, denn sie sind selbst erst hierher eingewandert oder gar geflohen. Sie können oft selbst noch nicht so gut Deutsch, kennen sich im deutschen Bildungssystem nicht aus, haben kaum Kontakte und auch kein Geld für Nachhilfe. Diese Herausforderung wird immer größer.

So hat die gerade veröffentlichte Pisa-Studie gezeigt, wie sehr sich der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund erhöht hat und dass die Hälfte von ihnen sozioökonomisch benachteiligt ist. Natürlich haben nicht alle von ihnen Lernschwierigkeiten. Doch in der Studie zeigten Schüler mit und Schüler ohne Migrationshintergrund schon im Bereich Lesen einen vergleichsweise großen Leistungsabstand. Das belastet die Kinder. Es belastet aber auch die gesamte Volkswirtschaft, die künftig immer dringender nach Fachkräften suchen wird.

Doch wie ließe sich beispielsweise der Bedarf an zusätzlicher Unterstützung für benachteiligte Kinder und der Bedarf an bezahlbarem Wohnraum für Studierende gleichzeitig angehen?

Eine mögliche Antwort findet sich in Duisburg-Marxloh. Hinter einer tristen Fassade öffnet sich dort ein helles, freundliches Haus, in dem viele Kinder aus diesem strukturschwachen Stadtteil ein- und ausgehen. Hier gibt es ein Spielzimmer sowie genügend Käsebrote und frisches Obst für alle, die hungrig kommen. Vor allem aber sind hier jeden Tag unter anderem mehrere Studierende als sogenannte Bildungspaten für sie da. Sie helfen ihnen bei den Hausaufgaben, geben Lernförderung, die vorab mit den Schulen abgestimmt wurde, und am Wochenende unternehmen sie gemeinsame Ausflüge. Die Kinder müssen nichts dafür bezahlen. Die Studierenden erhalten im Gegenzug mietfreie WG-Zimmer. Ganz nebenbei fördert dies auch noch die soziale Durchmischung dieses Viertels, in das die Studierenden sonst wohl nie gezogen wären. Tausche Bildung für Wohnen heißt das Konzept - genau wie der Verein, der dahintersteht. Bei der Finanzierung ist er vor allem auf Stiftungen, Kirche und kleine Privatspender angewiesen.

Wie effektiv dies beiden Seiten gleichermaßen hilft, zeigt das Beispiel von Razma und Imad. Razma floh vor rund drei Jahren mit ihren Eltern aus Syrien, sprach kaum Deutsch und kam dann bis zu viermal pro Woche zum Verein. Heute hilft sie sogar selbst dort bei kleinen Aufgaben mit, geht aufs Gymnasium und will später einmal Lehrerin werden. Imad studiert Ingenieurwesen in Duisburg und wurde bei allen Wohnungsgesuchen abgelehnt, bevor Tausche Bildung für Wohnen seine Rettung war, wo er sich nun sehr engagiert. All dies hat sich inzwischen herumgesprochen und die Nachfrage bei Kindern und Eltern ebenso wie bei Studierenden ist stark angestiegen. Auch in anderen Städten gibt es hierfür großen Bedarf. Mit Gelsenkirchen-Ückendorf wurde bereits ein zweiter Standort eröffnet.

Doch Tausche Bildung für Wohnen kämpft ums Überleben. Was fehlt ist eine stabile öffentliche Grundfinanzierung für die Basiskosten. Dies würde sicher auch dabei helfen, dass mehr ältere Menschen, die ungenutzten Wohnraum haben, diesen einem Studierenden zur Verfügung stellen können, wenn er sie dafür beispielsweise im Haushalt oder beim Einkaufen unterstützt. Mitentscheidend ist dabei die Vermittlung der Studierenden an die älteren Menschen. Mancherorts gelingt dies bereits, oft weil das örtliche Studierendenwerk für diese Aufgabe einspringt. Doch den Bedarf gibt es überall im ganzen Land. Das zeigt sich unter anderem daran, dass dies nicht nur in den angesagten Metropolen entstanden ist, sondern auch in weniger überlaufenen Hochschulstädten wie Oldenburg und Deggendorf.

Um die Wohnungskrise und die Zuwendungskrise in Deutschland zu bewältigen, braucht es natürlich noch viel mehr. Beispielsweise mehr Wohnungen, mehr Altenpfleger, mehr Lehrerinnen. Es braucht aber nicht nur mehr gesamtstaatliche Investitionen, sondern auch mehr lokale Innovationen. Gerade weil diese Probleme so komplex sind, bedarf es solcher unkonventioneller, pragmatischer Projekte, die in einem Ort einfach einmal ausprobiert werden und wenn sie dort gut funktionieren, dann auf viele andere Orte übertragen werden.

Hierfür sollten sie künftig mehr strukturelle Förderung von Bund und Ländern bekommen können. Tausche Bildung für Wohnen erhielt inzwischen sogar den Deutschen Nachbarschaftspreis. Denn jede Nachhilfestunde, die die Studierenden hier für die benachteiligten Kinder geben, stärkt auf unsichtbare Weise auch das, was das ganze Land gerade so dringend braucht: ein nachbarschaftlicheres Miteinander in der Gesellschaft.

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Quelle:
SZ vom 23.12.2019
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