Forum:Miteinander reden statt schmollen

Bilanz Evonik - Engel

Klaus Engel, 59, ist seit 2009 Vorstandschef der Evonik Industries AG und seit 2010 Präsident des Verbandes der Chemischen Industrie.

(Foto: Bernd Thissen/dpa)

Europa sollte sich mit den USA auf TTIP einigen und die Sanktionen mit Russland beenden. Einseitige Abhängigkeiten wären fatal. Nur so können wir den nächsten Generationen eine gute Zukunft sichern.

Von Klaus Engel

Der öffentliche Widerstand gegen das Freihandelsabkommen TTIP ist in Deutschland besonders heftig und vor allem laut. Bis zu 200 000 Menschen haben vor einer Woche in Berlin gegen das geplante Abkommen mit den USA demonstriert. Was treibt diese Menschen auf die Straße? Ist es wirklich die Angst vor Chlorhühnchen und vor einem schleichenden Ende unserer Demokratie, unserer sozialen Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit? Oder ist es eher die Angst vor einem übermächtigen Amerika? Und was sollte uns eigentlich mehr beunruhigen: eine engere Partnerschaft mit Amerika oder der drohende Verlust eben dieser Partnerschaft?

Egal, welche Argumente wir für oder gegen TTIP ins Feld führen: Für einen plumpen Anti-Amerikanismus, der in dieser Debatte immer wieder durchklingt, haben wir überhaupt keinen Raum! Das gilt für TTIP, und das gilt ebenso für all die anderen, großen Themen, die Europa und Amerika heute und in Zukunft verbinden.

Schon heute ist Europa für die USA nicht mehr der natürliche - und schon gar nicht der einzige - Partner. Stattdessen scheint unsere Bedeutung für Amerika schleichend, aber stetig abzunehmen. Heute interessieren sich die USA mehr für das aufstrebende und wachstumsstarke Asien und für das gewaltige wirtschaftliche Potenzial, das mit ihrer Annäherung an den pazifischen Raum verbunden ist. Stellvertretend für diese Annäherung steht das Transpazifische Handelsabkommen TPP, das die USA gerade mit elf Anrainerstaaten des Pazifiks geschlossen haben. Auch wenn Europa an diesem Abkommen nicht direkt beteiligt ist, spielt es für unsere künftige Rolle in der Welt und unser Verhältnis zu Amerika und zu Asien gleichwohl eine erhebliche Rolle.

Nur in stabile und sichere Länder, Regionen und Märkte können wir künftig exportieren, langfristig investieren und produzieren. In Nordamerika ebenso wie in Europa leben und arbeiten wir in verlässlichen und demokratisch legitimierten Rechtsstaaten. Die Bürger genießen Leistungs- und Freiheitsrechte, profitieren von den Vorzügen der Marktwirtschaft und leben - trotz aller Ungleichheiten - in einer Gesellschaft des Wohlstands. Das Ziel, diesen "Way of Life" auszubauen, ist das große gemeinsame Interesse Europas und Amerikas. Dabei sollten wir uns davor hüten, die amerikanische Rechtsstaatlichkeit, den amerikanischen Sozialstaat und die amerikanische Gesundheits- oder Bildungspolitik überkritisch, wenn nicht gar herablassend zu betrachten. Oft messen wir die USA an unseren eigenen, europäischen Maßstäben - und ignorieren dabei allzu oft die unterschiedliche historische und kulturelle Entwicklung.

Was wir brauchen, ist Verständnis und Toleranz, und den Blick für das große Ganze: Die Gemeinsamkeiten sind es, die uns im sogenannten Westen verbinden, und die gemeinsame Herausforderung, uns in einer Welt, die sich rasant entwickelt und verändert, den neuen Realitäten - unserem "new normal" - anzupassen und diese in unserem Sinne mitzugestalten.

Was wir nicht wollen, sind einseitige Abhängigkeiten. Wir wollen uns aufeinander zubewegen, ergänzen und unseren gemeinsamen Interessen das größtmögliche Gewicht verleihen. Einfuhrzölle, sinnlose Bürokratie und unvereinbare Zulassungsvorschriften passen nicht mehr in die Zeit. Wir wollen offene Märkte, fairen Wettbewerb und einen effektiven Schutz der Verbraucher, der Arbeitnehmer und der Umwelt. Die offenen, teils komplizierten Fragen, die auf dem Weg zu TTIP für breiten Widerstand in der Öffentlichkeit sorgen, müssen sachlich und nüchtern geklärt werden. Zugleich geht es, über den freien Handel hinaus, auch darum, für die nächsten und übernächsten Generationen unsere geopolitischen Perspektiven zu sichern.

Die Nationalstaaten haben sich in ihrer ursprünglichen Ausgestaltung überlebt

Dabei müssen wir erkennen: Ganz allein und nur aus eigener Kraft werden wir das nicht schaffen. Selbst ein politisch und wirtschaftlich geeintes Europa wäre dazu in der rasant wachsenden Welt zu klein. Das Gebot der Stunde ist auch deshalb die substanzielle Fortentwicklung der Einheit Europas. Immer wieder heißt es aus Brüssel: "Zu einem politisch starken Europa gibt es keine Alternative." Das ist richtig, aber es bedeutet in der Konsequenz eben auch: Die Nationalstaaten, die als Konstrukt aus dem 19. Jahrhundert hervorgegangen sind, haben sich in ihrer ursprünglichen Ausgestaltung überlebt. Diese Erkenntnis müssen wir in ihrer gesamten Tragweite begreifen - und konsequent danach handeln: Aus einem Europa der Nationen wird ein Europa der Regionen.

In absehbarer Zeit werden zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben. Was das bedeutet, ist völlig klar: Die Herausforderungen und Verteilungskonflikte werden größer, es geht um Wasser, um Nahrung, um Ressourcen und um Lebensraum mit Perspektive. Die Flüchtlingsströme werden nicht abreißen, neue Krisen kommen auf uns zu. Angesichts dieser Prognosen beschränkt sich das Gebot eines europäischen Zusammenhalts nicht nur auf die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Ausdrücklich schließe ich Russland ein. Weil uns derzeit - aus guten Gründen - die Richtung russischer Politik nicht passt, sehen wir dem Weg Russlands in eine selbst

gewählte, stolze Isolation weitgehend tatenlos zu. Die Isolation und der nationale Trotz verstärken sich in Russland Tag für Tag. Und dann verhängen wir auch noch Handels- und Finanzsanktionen. Was haben diese Sanktionen bis heute bewirkt?

Russland rutscht ab in ernsthafte wirtschaftliche Probleme, und die Wirtschaft Europas leidet ein bisschen mit. Gleichzeitig verbauen wir uns gigantische Perspektiven in einem wichtigen Markt direkt vor unserer Haustür. Dabei genügt ein Blick auf die Landkarte, um zu sehen, dass es Frieden ohne Russland nicht geben wird. Denn Russland ist von allen Krisenherden der Welt mindestens ebenso betroffen wie Westeuropa oder Amerika.

In der jungen Bundesrepublik hat Konrad Adenauer das Bild von einem gemeinsamen Haus Europa entworfen, ein "großes Haus für die Europäer, ein Haus der Freiheit". 60 Jahre später leben wir in diesem Haus, und es steht für mich außer Frage: Russland muss in diesem Haus Europa ein großes Zimmer bekommen.

Wir Europäer, und die Deutschen ganz besonders, bilden nicht nur geografisch das Zwischenstück im amerikanisch-russischen Gefüge. Auch politisch, auch diplomatisch, kommt uns die Rolle des Vermittlers zu. Was die Politik zu Moskau betrifft, sind wir schon seit Jahrzehnten die Führungsmacht Europas. Deshalb müssen wir die Initiative ergreifen, um das Verhältnis zu Russland wieder in Ordnung zu bringen und alle Beteiligten aus ihren Schmollwinkeln herauszuholen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: