Süddeutsche Zeitung

Forum:Lieber höhere Löhne

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Viele Menschen hierzulande freuen sich über die großen Leistungsbilanzüberschüsse. Dabei stellen sie eine Gefahr dar.

Von Maximilian Krahé und David Adler

Im November überreichte Christine Lagarde, die neue Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Wolfgang Schäuble den Ehren-Victoria-Preis. "Nur wenige haben so viel für Europa und den Euro getan. Sein Engagement, seine Stringenz und Sorgfalt, und seine Staatskunst sind eine Inspiration", twitterte Lagarde am nächsten Morgen. Wie Schäuble, so Deutschland: wahrgenommen als Fels in der Brandung, dessen solide Finanz- und Wirtschaftspolitik anderen Halt gibt. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die deutsche Wirtschaftspolitik hat - durch einen monomanischen Fokus auf Wettbewerbsfähigkeit und Niedrignachfragepolitik - massive, strukturelle Leistungsbilanzüberschüsse herbeigeführt. In der Öffentlichkeit häufig als "Exportweltmeisterschaft" gefeiert, sind diese Gift für die europäische Wirtschaft. Mittel- und langfristig auch für die deutsche. Ein Leistungsbilanzüberschuss bedeutet, dass die Exporteinnahmen eines Landes seine Importausgaben übersteigen. Solche Überschüsse mögen auf den ersten Blick positiv erscheinen. Doch wie überall kommt es auf die Dosis an: klein und vorübergehend, kein Problem. Groß und permanent, so werden sie gefährlich.

Die erste Konsequenz: Zerstörung von Nachfrage. In dem Maße, in dem BMWs, Industrieroboter, und SAP-Programme von Deutschland nach Europa geliefert werden, fließt Geld von Europa nach Deutschland. Ein Großteil dieses Geldes bleibt hierzulande stecken. Da Deutschland deutlich weniger importiert als es exportiert, fließt es nicht zurück als Ausgaben für italienische Mode oder ähnliche Importe. In einer wachsenden Wirtschaft mit genügend Nachfrage würden diese Gelder als Investitionen zurück ins Ausland fließen. Doch derselbe Mangel an Importnachfrage, der das Ansammeln der Gelder in Deutschland verursacht, verhindert auch, dass sie als produktive Investitionen recycelt werden. Welcher Unternehmer mag heute investieren, wenn morgen niemand kauft?

Die Größe des deutschen Kaufkraftüberschusses ist enorm. Seit 2008 haben die Überschüsse jährlich circa 110 Milliarden Euro aus Europa entfernt und in Deutschland angesammelt. Dies entzieht dem Binnenmarkt den Sauerstoff, den er zum Florieren nötig hat, und trägt zu den zehn, 14 oder 17 Prozent Arbeitslosigkeit bei, die in Italien, Spanien, und Griechenland herrschen. Das Ergebnis: ein wirtschaftliches Umfeld, in dem rechtsextreme Parteien Zulauf finden und nötige Reformen zu politischen Drahtseilakten werden. Und: ersparnisanhebend, aber investitionshemmend. So tragen die Überschüsse maßgeblich zum Niedrigzinsumfeld bei.

Auch für Deutschland ist diese asymmetrische Exportstrategie mittelfristig gefährlich. Da Deutschland zu wenig importiert, können andere europäische Länder die Käufe deutscher Exporte nicht aus laufenden Einnahmen bezahlen. Der Verkauf von Vermögenswerten und die Kreditaufnahme verbleiben als einzige Bezahlmöglichkeiten. Diese Finanzierung ist nicht nachhaltig. Vermögenswerte und die Geduld deutscher Kreditgeber sind endlich. Wenn sie versiegen, kommt es zu einer Anpassungskrise. Entweder zeigt sich Deutschland bereit, über Nacht große Leistungsbilanzdefizite zu fahren, um so Gelder ins europäische Ausland zu spülen, mit denen dieses seine Schulden bezahlen kann; oder deutsche Banken erfahren herbe Verluste durch die Abschreibung ihrer Kredite, während gleichzeitig die deutsche Exportindustrie Aufträge verliert, da ihre Kunden zahlungsunfähig werden. Die Bundesregierung ignoriert all dies. Die Überschüsse, so heißt es, haben keine politischen Ursachen, wie etwa Währungsmanipulation, sondern resultieren aus der Wettbewerbsfähigkeit privater Unternehmen. Unabhängig davon, ob diese Darstellung korrekt ist, geht sie an der Sache vorbei. Was zählt, sind nicht die Ursachen, sondern die Folgen der Überschüsse: Nachfragemangel, politische Verwerfungen, das Zusteuern auf eine Anpassungskrise.

Die prominenteste Lösung, vorgeschlagen unter anderem von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, sieht vor, mittels Fiskaltransfers aus Deutschland in die EU das Ungleichgewicht der Leistungsbilanz auszugleichen. Diese Lösung würde weder wirtschaftlich noch politisch funktionieren. Selbst innerhalb von Nationalstaaten haben Fiskaltransfers nicht erreicht, dass regionale Wertschöpfungsstrukturen sich angleichen. Und obwohl die wahrgenommene Schicksalsgemeinschaft dort stärker ist, führen sie zu einer gefährlichen Mischung aus Arroganz bei den Geldgebern und Ressentiments bei den Empfängern. Nord- und Süditalien und die Lega Nord, Ost- und Westdeutschland und die AfD lassen grüßen.

Was dann? Die Bundesregierung sollte anstreben, das Wachstum deutscher Löhne zu verdreifachen: fünf Prozent reales Lohnwachstum für fünf Jahre. Wie hilft dies, die Leistungsbilanz auszugleichen? Steigende Löhne erhöhen Importe - ungefähr 20 Prozent aller Konsumausgaben entfallen auf sie - aber nicht Exporte, die höhere Lohnkosten allenfalls reduzieren. Solche Lohnerhöhungen zu erreichen ist nicht einfach. Die Tarifautonomie ist im Grundgesetz verankert, und Lohnzurückhaltung wird von einem breiten Konsens zwischen Exportindustriegewerkschaften und Arbeitgebern getragen.

Dennoch hat die Politik Mittel. Sie kann durch das Setzen von Rahmenbedingungen in Ausbildung, Arbeitsmarkt und Makroökonomie sowie durch das Festlegen öffentlicher Gehälter maßgeblichen Einfluss ausüben. Außerdem, so zeigt die Geschichte, ist diese Aufgabe zu wichtig, um an ökonomischen Dogmen, änderbaren Gesetzen, oder eingesessenen Interessensgruppen zu scheitern. Wie der Historiker Adam Tooze in seinem Buch "Sintflut: Die Neuordnung der Welt 1916-1931" demonstriert, waren es die strukturellen US-Leistungsbilanzüberschüsse, die die Wirtschaftsgeschichte der 1920er prägten. Sie bedeuteten, dass es keinen nachhaltigen Fluss von Dollar-Devisen ins Ausland gab. So konnte die aus dem Ersten Weltkrieg resultierende Schuldenverkettung, die von Deutschland nach Frankreich und England, und von dort in die USA lief, nie gelöst werden. Als die US-Kredite an Deutschland, die dieses Gebilde temporär stützten, 1929 versiegten, war das Ergebnis die Weltwirtschaftskrise - mit politischen Konsequenzen, die man keinem Deutschen weiter erklären muss.

Heute wie damals gibt es eine Alternative: Löhne anheben, so die Leistungsbilanz ausgleichen, und damit internationale Finanzbeziehungen stabilisieren. Ob diese wirtschaftspolitische Wende rechtzeitig gelingt, bleibt unklar. Deutschlands Exportsucht lässt uns daran zweifeln, aber das deutsche historische Gedächtnis gibt uns Hoffnung.

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Quelle:
SZ vom 16.12.2019
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