Forum:Keine Angst vor Sammelklagen
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Die Musterfeststellungsklage wird mehr schaden als nutzen. Noch bliebe Zeit für ein besseres Regelwerk - im Interesse aller.
Von Andreas Zubrod
Fußballvergleiche werden oft überstrapaziert. Gleichwohl liegen die Parallelen zum Ergebnis der deutschen Nationalmannschaft bei der WM auf der Hand, wenn man das gesetzgeberische Resultat der Musterfeststellungsklage (MFK) mit zeitlicher Distanz betrachtet: Es ist ideen- und orientierungslos im Aufbau, man hat sich an Neben- und Scheinproblemen abgearbeitet, sich bietende Chancen leichtfertig vergeben, und es verursacht wirtschaftlichen Schaden - indessen anders als die meisten Verbände meinen.
Die MFK wird kommen, der Bundesrat hat sie am vergangenen Freitag passieren lassen. Was auf Überschriftenniveau wie ein Erfolg klingen mag, hält näherer Betrachtung nicht stand. Die häufig als Sammelklage apostrophierte MFK ist eine gesetzestechnische Aufwärmung eines erwiesenermaßen untauglichen Versuchs. 2005 wurde mit dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz für den Bereich des Wertpapierrechts eine MFK eingeführt. Nach diesen Regeln wurde der sogenannte Telekom-Prozess geführt, der im wirtschaftlichen Ergebnis nach über 13 Jahren Laufzeit immer noch fortdauert.
Ein großer Irrtum des Gesetzgebers besteht in der Annahme, man könne kollektiven Rechtsschutz effektiv so gestalten, dass man abstrakte Tatsachen- oder Rechtsfragen kollektiv vorab klären. Die individuelle Höhe des Schadens könne dann in individuellen Nachverfahren aufgrund der Vorabentscheidung zügig geklärt werden. In diesen Nachverfahren würden sich die Unternehmen schnell vergleichen. Soweit die schon 2005 - und 2018 erst recht - unbegründete Hoffnung.
Denn sie wird sich nicht erfüllen. Die Unternehmen werden legitimerweise, da das Gesetz zu einem solchen Verhalten geradezu auffordert, in den individuellen Nachverfahren Einwendungen zu Schadensberechnung und -höhe sowie Mitverschulden einbringen, um Prozesswillige abzuschrecken. Welcher Kläger hat Jahre später noch die Ausdauer, einen Schaden wegen behaupteter Abgaswertemanipulation einzuklagen? Nur durch die Geltendmachung eines konkreten kollektiven Gesamtschadens durch die Marktteilnehmer (also ihren Leitkläger, nicht einen Verband) stünden Sammelklagen zur Verfügung. So wäre bei einem Fehlverhalten der wünschenswerte Vergleichsdruck entstanden.
Warum ist dies nicht passiert? Weil die Bundesregierung keine ordnungspolitische Vorstellung vom kollektiven Rechtsschutz hat und somit zwischen einem vermeintlichen Schutz von "Verbrauchern" und dem durch Studium US-amerikanischer Gerichtsdramen gespeisten Wehklagen von Verbänden über "höhere Kosten für den Mittelstand", "amerikanische Verhältnisse", "Klageindustrie" und "Erfolgshonorare" mäanderte. Schließlich kam noch durch "Dieselgate" die operative Hektik auf, man müsse bis Ende 2018 den Verbrauchern irgendwie helfen, um Verjährungsfristen hemmen zu können.
In der deutschen Ausgestaltung mutiert das Instrument zu einem paternalistischen Stückwerk
Eine ordnungspolitisch richtig verstandene Sammelklage ist kein Mittel des Verbraucherschutzes, sondern ein wirtschaftsliberales Instrument. Es ermöglicht freien Marktteilnehmern, Verhandlungsmacht zu bündeln, bei Fehlverhalten Druck aufzubauen und schnell insgesamt bessere Kompensationen zu erzielen. Der Grundgedanke der Sammelklage ist also der der Eigenverantwortung und des Interessengleichgewichts der Marktteilnehmer. Das gefährdet nicht etwa die deutsche Wirtschaft, sondern stärkt durch eine schnelle Befriedung von Streitfällen das Vertrauen der Marktteilnehmer in einen ordnungspolitisch effektiv organisierten Rechtsstaat. In der deutschen Ausgestaltung mutiert das Instrument freilich zu einem Stückwerk paternalistischer Staatshilfe mittels zweifelhafter Intermediäre für vermeintlich schutzbedürftige "Verbraucher", wobei die ökonomischen Effekte auf die Unternehmen im Gegenzug als politische Kompensation irgendwie begrenzt werden mussten.
Durch die echte Sammelklage würde tatsächliches Fehlverhalten ex post effektiv und privatrechtlich sanktioniert. Dies wiederum führte zu einer nicht-staatlichen Regulierung durch die Marktteilnehmer. So bestünde auch die Möglichkeit, von dem in Europa, speziell in Deutschland, verbreiteten Vorsorgeprinzip abzurücken: Die maßgeblichen Perspektiven dabei sind die Verkürzung von Genehmigungsverfahren, staatliches Vertrauen in unternehmerisches Handeln, geringere Kosten für Gründer und Start-ups durch Bürokratieminimierung, marktgetriebene Sanktionierung, Anschlussfähigkeit bei Handelsverträgen in Zeiten eines bedrohten Multilateralismus und so höhere wirtschaftliche Dynamik und Innovationskraft für eine sich abschwächende Wirtschaft. Der Rechtsausschuss des Bundestages hat sich hingegen intensiv mit der Frage befasst, ob denn nun die Oberlandes- oder die Landgerichte für die Verhandlung der MFK in den 16 Bundesländern zuständig sein sollen.
Es bestünde die Chance, über EU-weit vergleichbare Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes einen vertieften Binnenmarkt zu erreichen. So könnten in der Tat mehr Spezialisierung, ein effektiver Rechtsschutz, eine Entlastung der Gerichte durch weniger Einzelverfahren sowie mehr Rechtssicherheit durch wenigere und schnellere Urteile und Vergleiche erreicht werden. Wir hätten die Möglichkeit, durch international konkurrenzfähige Mittel der Streitbeilegung Massenverfahren bei uns zu attrahieren und unsere Position im Binnenmarkt zu stärken. Man könnte dazu alle deutschen Verfahren bei einem international gut erreichbaren Gericht konzentrieren, die Verfahren mit Zustimmung der Beteiligten auch auf Englisch oder Mandarin führen, das Verfahrensrecht dieser Sammelklage inhaltlich stärker straffen und durchstrukturieren. Das Ganze wäre machbar mit wenig Aufwand, ohne Subventionen, mit hoher Marktkonformität und enormem Potenzial für Arbeitsplätze.
Stattdessen wurde die Debatte anhand von Zerrbildern der US-Sammelklage und in Kategorien des tradierten Justizföderalismus geführt. Im Ergebnis wird die MFK scheitern. Sie wird wegen ihrer Ineffektivität das rationale Desinteresse der Marktteilnehmer nicht beseitigen und daher faktischen Sammelklagen durch Anbieter wie "My right" unterlegen sein. Diese Anbieter nutzen die Vorteile der Digitalisierung zur Anspruchsabtretung konsequent, selbst wenn sie ein Erfolgshonorar von 35 Prozent vorsehen. So befördert der Gesetzgeber ironischerweise die faktischen Sammelklagen mit hohen Erfolgshonoraren, die er verhindern will. Nach wie vor könnte die Bundesregierung die MFK in der Nachspielzeit gemäß dem Richtlinienvorschlag der EU-Kommission vom 11. April 2018 umbauen. In der Fußballsprache könnte man sagen: Chance zum Neuaufbau.