Forum:"Ich huste, also bin ich"

Nora Szech

Nora Szech ist Professorin für politische Ökonomie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Dort forscht sie zu Markt- und Wettbewerbsdesign. Ihre Arbeit wurde unter anderem mit dem Reinhard-Selten-Preis ausgezeichnet.

(Foto: OH)

Was Martin Walser mit dem ethisch bemühten Konsumenten gemeinsam hat? Ablassbriefe aus dem Supermarkt. Menschen können ihr Gewissen relativ leicht freikaufen. Doch ein Bio-Siegel sagt noch lange nichts über Arbeitsbedingungen aus.

Von Nora Szech

Helmut, Lehrer in der Midlife-Crisis, trifft im Urlaub mit seiner Frau Sabine auf den alten Schulfreund Klaus und dessen junge Eroberung. Letztere fasziniert Helmut sofort. Es brodelt, es kriselt, Klaus ertrinkt schließlich beinahe im Bodensee, Helmut ist daran sogar etwas schuld. Am Ende überlebt Klaus, und Helmut findet zurück zu seiner Ehefrau mit den aufgedunsenen Falten, zu seinem "einzigen Menschen" Sabine: Das ist aus Martin Walsers 40 Jahre altem Klassiker "Ein fliehendes Pferd". Die Krisen des Lebens sind Thema auch für den ethisch bemühten Konsumenten.

Die wirtschaftswissenschaftliche Fachliteratur berichtet von einer Diskrepanz von eins zu zehn - will heißen: Konsumenten haben im Schnitt zehn Mal höhere Ansprüche an die Nachhaltigkeit ihrer eigenen Kaufentscheidungen, als ihre Einkaufstüten typischerweise nach einer Shopping-Tour hergeben. Wunsch und Realität klaffen stark auseinander. Das ist verwunderlich. Wieso schaffen es Konsumenten kaum, sich auf ihre eigentlichen Werte zu besinnen, wenn sie ihre Einkaufswagen füllen?

Wieder hilft Walser weiter, in seinem neuesten Werk "Statt etwas oder Der letzte Rank". Dort betont der 90-jährige Autor, es gehe ihm "ein bisschen zu gut". Allerdings schreibt er auch: "Ich huste, also bin ich." Der Anspruch an das ein bisschen zu gute Leben ist also vermutlich nicht ganz so hoch, wie man erst denken könnte. Ganz ähnlich verhält es sich bei vielen Konsumenten - nicht, wenn sie in Ruhe über ihr Leben oder ihren Einkaufswagen philosophieren, aber dann, wenn es akut um ethisch relevante Entscheidungen geht. Zum Beispiel, wenn sie im Supermarkt in die Regale greifen. Diverse Studien legen nahe, dass "ein bisschen gut" dann schnell erreicht ist.

Schon zu Beginn des 21. Jahrhunderts fanden die Sozialpsychologen Monin und Miller heraus, dass Menschen dem ein oder anderen Vorurteil erliegen, wenn sie geeignete Kandidaten auswählen sollen, zum Beispiel für einen Job. (Das Problem hat sich bislang nicht gelöst. Orchester rekrutieren ihre Besetzung mittlerweile teils hinter Vorhängen, weil ansonsten die ersten Geigen sehr selten von Frauen gegeigt werden, zum Nachteil der Musik.) Monin und Miller bemerkten zudem, dass Menschen, die sich zunächst um Offenheit bemühten, in einer späteren Auswahl besonders diskriminierend entschieden. Etliche Studien haben seitdem belegt, dass etwas Gutes fürs Gewissen dann und wann als Rechtfertigung für Rücksichtslosigkeit an anderer Stelle genügt. Jannis Engel und ich haben nun untersucht, ob das im Supermarkt oder beim Kleidungskauf ebenso sein könnte. Was ist, wenn ein Produkt "ein bisschen nachhaltig" daherkommt: Genügt das? Oder haben Menschen hier einen umfassenderen Anspruch an ihr ethisches Entscheidungsverhalten? Und gibt es einen Effekt auf späteres Verhalten?

Gute Taten entfalten Wirkungen: Menschen kaufen ihr Gewissen frei

Die Teilnehmer unserer Studie wussten, dass sie jeder ein Handtuch geschenkt bekommen würden. Der Zufall entschied, ob es sich um ein Handtuch aus Biobaumwolle handeln würde oder um eines aus konventioneller Baumwolle. Jetzt konnten die Teilnehmer wählen: Wollten sie zusätzlich Geld bekommen oder lieber auf ein Handtuch aus Arbeitsschutz-zertifizierter Fertigung upgraden? Interessanterweise waren Teilnehmer, deren Handtuch aus Biobaumwolle gefertigt war, weniger bereit, Geld zugunsten des Arbeitsschutzes abzugeben. Auch in einer späteren Entscheidung, die mit dem Handtuch direkt gar nichts mehr zu tun hatte, zeigten sich die Teilnehmer mit Biobaumwolltuch weniger spendenbereit und wollten lieber mehr Geld für sich behalten, anstatt Geflüchtete zu unterstützen.

Die Kollegen Gneezy, Imas und Madarász konnten zudem zeigen, dass Menschen andere leichtfertiger übers Ohr hauen, wenn sie wissen, dass sie später ein paar Cent für kranke Kinder spenden können. Damit entfalten gute Taten ähnliche Wirkung wie Ablassbriefe: Menschen können ihr Gewissen tatsächlich, und oft sogar relativ leicht, freikaufen. Pessimisten würden sagen: Das ethische Glas bleibt halb leer. Wenn die Ablasseffekte im Alltag so stark sind - wissen Menschen dann, dass es sie gibt? Die Daten zeigen, dass dem nicht so ist. Wer nicht selbst in der Situation ist, erwartet auch keinen Ablasseffekt.

Zurück zum Handtuch. Andere Teilnehmer waren eingeladen zu schätzen, wie sich die Beschenkten weiterhin verhalten würden. Für gute Schätzungen konnten sie extra Geld verdienen, und trotzdem übersahen diese Teilnehmer den Ablasseffekt. Sie dachten, dass Teilnehmer mit Biobaumwoll-Handtuch ebenso arbeitsschutzinteressiert und spendenbereit sein würden wie Teilnehmer mit Handtuch aus konventioneller Baumwolle. Optimisten könnten entgegnen: Na ja, immerhin tun Menschen, die gerade keine gute Entschuldigung finden, ab und an mal was Gutes, auch wenn sie damit egoistisches Verhalten an anderer Stelle rechtfertigen - und damit ist das ethische Glas immerhin halb voll! Oder sagen wir, mit Blick auf Anspruch im Vergleich zu tatsächlichem Kaufverhalten von Konsumenten, das ethische Glas ist zumindest zu einem Zehntel voll.

Vielleicht ist auf Dauer noch mehr möglich, manchmal brauchen Menschen ja eine Weile, um ihr Verhalten zu überdenken und sich wirklich zu ändern. Im "Fliehenden Pferd" ist das nicht anders - Helmut geht erst durch dieses Jammertal an Beziehungskrise, um sich endlich auf seinen Lieblingsmenschen Sabine besinnen zu können. Kann Helmut mit Sabines Falten leben? Am Ende auf jeden Fall!

Aber im Alltag bleibt wenig Zeit zur Besinnung. Diverse Firmen machen es Konsumenten leicht, sich auf einzelne Produktfacetten zu fokussieren und ihre weiteren Ansprüche an Nachhaltigkeit vorübergehend zu vergessen. Beispiel schwedischer Textilkonzern: H&M nennt seine Produkte aus Biobaumwolle: "Conscious Collection". Da steht natürlich nicht: Ja, okay, Biobaumwolle, aber das mit den Arbeitsbedingungen bleibt leider trotzdem wie immer.

Vielleicht braucht es im Lutherjahr wieder mehr Debatte über den Ablasseffekt. Ein ethisch hustender Patient ist kein ethisch toter Patient! Arbeitssicherheit interessiert mittlerweile viele. Deswegen werden Zertifizierungen wie etwa jene der Fair Wear Foundation immer beliebter. Und deswegen formulieren Konsumenten zumindest außerhalb des Supermarkts hohe ethische Ansprüche an ihr eigenes Kaufverhalten. Konsumenten, denen an der Sicherheit von Näherinnen gelegen ist, sollten sich darum nicht durch völlig andere, oft deutlich billigere Zertifizierungen ablenken lassen. Und wer von dem Ablasseffekt weiß, kann sich im Alltag besser davor schützen.

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