Forum:Geld oder Maus

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Nora Szech, geboren 1980 in Bremen, forscht zu Märkten und Werten. Die promovierte Ökonomin leitet den Lehrstuhl für Politische Ökonomie am KIT in Karlsruhe. Zuvor war sie Professorin in Bamberg. (Foto: privat)

Die Verhaltensökonomie zeigt, wie schnell die Moral aus dem Blick gerät, wenn es etwas zu gewinnen gibt. In einer globalisierten Welt, in der man oft keinen Kontakt zu den Betroffenen hat, passiert das sogar noch schneller.

Von Nora Szech

Wir treffen jeden Tag Hunderte Entscheidungen. Für manche nehmen wir uns viel Zeit. Was für ein Beruf passt zu mir? Funktioniert die Beziehung noch? Oder: Soll ich mir die Haare wieder wachsen lassen? Für die meisten Entscheidungen bleibt aber sehr wenig Zeit, zum Beispiel beim Einkaufen. Teils ist das sinnvoll. Wer hat schon Zeit und Lust, sich stundenlang Gedanken zu machen, welche Sorte Tee nun die allerleckerste ist: Apfelstrudel, Himbeermuffin oder Rhabarbertraum? Was immer ein Rhabarbertraum auch sein mag. Und doch sind hernach viele mit ihren Husch-husch-Entscheidungen unzufrieden: Sie kaufen zu viel Ungesundes und schaden dadurch mitunter sogar sich und anderen. Und insgesamt kaufen viele von uns anscheinend auch einfach generell viel zu viel.

Kann einem die Wissenschaft dabei helfen, gerade die Verhaltensökonomie? Nun, den finalen Algorithmus oder Ratschlag gibt es nicht, sonst hätten Sie, lieber Leser, schon davon gehört. Aber wer die Mechanismen kennt und sie beherzigt, der kann vielleicht anders agieren, gerade bei Entscheidungen, in denen es um Geld und Waren geht. Doch fangen wir an bei den zu vielen Sachen, die man loswerden sollte. Prominent ist derzeit die Konmari-Methode, benannt nach ihrer Erfinderin, Marie Kondo. Dieser zufolge muss man alles Inventar der Wohnung einmal in die Hand nehmen. Nur was einen Schub Glück auslöst, darf bleiben. Ein extremer Anspruch, das mit dem Glücksgefühl. Weder mein Dosenöffner noch meine Strumpfhosen machen mich sonderlich glücklich - ich behalte sie vorläufig trotzdem. Egal, wie überzeugend Marie Kondos Ansatz sein mag - bemerkenswert ist, dass die Erfinderin einer Entrümpelungsmethode zu den einflussreichsten Menschen der Welt gezählt wird. Also ist das "zu viel" tatsächlich für viele ein Problem. Marie Kondo empfiehlt für Kleidung und Wäsche übrigens eine Art Origami-Faltmethode, damit man überhaupt einmal sieht, was man alles so besitzt - und dann wählen kann, was zu behalten ist oder nicht.

Ob wir mit unseren Entscheidungen zufrieden sind oder nicht, hängt auch von der Situation ab, in der wir sie treffen. Zurück zum Markt: In diversen Marktsituationen entscheiden viele gieriger als außerhalb, in individuellen Situationen. Wir haben im ökonomischen Experiment Teilnehmer entscheiden lassen, ob sie zehn Euro für sich haben oder einer Maus das Leben schenken möchten. Die Maus war eine gesunde, sechs Monate alte Labormaus. Solche Mäuse werden standardmäßig getötet, wenn sie für Tierstudien nicht benötigt werden. Die Teilnehmer konnten solchen Mäusen ein Überleben in guten Bedingungen ermöglichen - oder ihrem Tod zustimmen und zehn Euro kassieren. Individuell entschied sich die Mehrheit der Teilnehmer für die Maus und gegen das Geld. Gut für die Maus! Ganz anders in einem Marktumfeld. Dort handelten Teilnehmer als Verkäufer oder Käufer. Sie konnten entweder ein Mäuseleben zum eigenen Profit verhandeln und damit töten. Oder einfach sagen: Ich mache nicht mit bei dem Handel - dann überlebte das Tier. Wieder ging es um sogenannte "überzählige" Labormäuse, die ohne diese Studie alle getötet worden wären. Drei Viertel der Teilnehmer "verhandelten" ihre Maus und stimmten so ihrem Tod zu, um zehn Euro Profit zu machen. Natürlich kann man diskutieren, welchen Wert es hat, eine Maus zu retten. Bemerkenswert ist die Diskrepanz im Verhalten je nach Situation. Bemerkenswert ist auch, dass viele Teilnehmer im Markt ihr Verhalten im Nachhinein bedauerten: In der Selbstreflexion meinten viele, sie hätten sich im Markt mitreißen lassen und plötzlich zu sehr auf das Geld geachtet. Die Maus, also auch die Moral, sei dabei irgendwie aus dem Fokus geraten.

Gruppenabstimmungen sind komfortabel: Der Einzelne kann die Schuld teilen

Ein deutlicher Unterschied zu individuell verantwortlichem Verhalten ergibt sich auch in Abstimmungen in Gruppen oder Gremien. Auch dort kann sich der Einzelne hinter anderen verstecken und die Schuld mit anderen teilen. Wir haben in Studien gesehen, dass auch hier eine größere Bereitschaft besteht, die eigenen Wertvorstellungen zu ignorieren. Die Effekte scheinen weniger drastisch zu sein als in Märkten, aber erheblich. Ein offensichtliches Manko an Abstimmungen und Wahlen. Es lohnt sich vermutlich, in solchen Situationen besonders gut zu überlegen, was man eigentlich möchte. Nicht, dass man sich hinterher über sein eigenes Verhalten ärgert, wie zum Beispiel manch ein Wähler nach dem Brexit-Votum.

Wir sehen zudem in vielen Situationen Unterschiede in der Persönlichkeit. Oft entscheiden Frauen weniger gierig als Männer - wobei ich vermute, dass "Frau" hier insbesondere ein Platzhalter dafür ist, wie jemand sozialisiert wurde. Frauen achten zudem stärker den Arbeitseinsatz anderer. In einer unserer Experimentalstudien mussten Teilnehmer Hunderte Kulis zusammenschrauben. Andere Teilnehmer entschieden als "Arbeitgeber", wie gut sie diese nervtötende Arbeit entlohnen wollten. Gerade Frauen legten großen Wert darauf, dass die Vergütung nicht zu gering ausfiel, und waren oft bereit, einen erheblichen Teil ihres eigenen Geldes dafür einzusetzen. Für das Arbeitsklima kann es also eine große Rolle spielen, wer am Ruder sitzt. Studien zeigen zudem, dass Frauen oft weniger anfällig für Korruption zu sein scheinen. Und Studien beweisen, was man vermutet: Erziehung spielt eine wichtige Rolle. Generell achten Kinder, die sozialer aufgewachsen sind, auch später mehr auf das Wohl anderer. Ganz anders verhalten sich übrigens besonders machthungrige Menschen. Diese lassen gern fünfe gerade sein, wenn es um ethisch relevante Entscheidungen geht. Leider sind es natürlich gerade diese Menschen, die gern im Rampenlicht stehen und wichtige Entscheidungen treffen. In diversen Studien sehen wir zudem, dass Menschen, die sich selbst politisch sehr rechts einordnen, ihr Selbstinteresse deutlicher vor die Bedürfnisse ihres Umfelds stellen als andere. All das ist Statistik und muss für den Einzelnen nichts heißen, aber es ist doch trotzdem interessant zu untersuchen. (Sollten Sie sich einer hier als eher selbstbezogen eingestuften Gruppe angehörig fühlen und darüber empört sein, lieber Leser, dann zeigt das also, dass Sie ein großes Herz haben.)

Nun gerät in einer globalisierten Welt, in der man oft keinen direkten Kontakt zu den Betroffenen hat, die Moral noch schneller aus dem Fokus. Wer erinnert sich schon dauernd an die Arbeitsumstände von Näherinnen, wenn die Kleidung schön und günstig ist? Umso wichtiger ist es, sich ab und an zurückzulehnen und zu überlegen, was man wirklich gut findet und was nicht. Das hilft gegen Schuldgefühle und hat den Vorteil, dass man das Origamifalten nicht bis zur Perfektion erlernen muss.

© SZ vom 02.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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