Forum:Europa wiederbeleben

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Die Covid-19-Krise ist auch eine einmalige Gelegenheit für die EU, sich zu reformieren - unter vier Bedingungen.

Von Andrea Canino

Winston Churchill sagte: Jede Krise bietet Chancen, die dem Grad der Bedrohung entsprechen. Die Covid-19-Herausforderung an die EU spiegelt dieses Sprichwort perfekt wider. Über den Gesundheitsschock hinaus kann die Krise, wenn wir richtig handeln, zum Anlass für eine große Wiederbelebung Europas werden. Wir haben schon sehr viel Glück gehabt: Wir haben unsere übermäßige Abhängigkeit von China während einer Gesundheitskrise erkannt und nicht aufgrund von Spannungen mit China. Ebenso haben wir verstanden, dass Europa ohne mehr Zusammenhalt und Solidarität implodiert und von der Flutwelle populistischer Regierungen mitgerissen worden wäre. Das reicht aber nicht. Um diese enorme Chance zu nutzen, müssen wir vom Beobachten zum Handeln übergehen, von der Getriebenheit hin zu wichtigen strategischen Entscheidungen.

Der Europäische Rat hat sich an diesem Donnerstag darauf beschränkt, bekannte Grundsätze in Erinnerung zu rufen und einen allgemeinen Rahmen für den Wiederaufbauplan festzulegen. Die Kommission wird erst am 6. Mai einen Haushaltsentwurf vorstellen. Die vom Rat festgelegten Themen sind die richtigen: die Vollendung des Binnenmarkts, der Wiederaufbaufonds, globale Maßnahmen zum Regierungshandeln. Aber alles wird davon abhängen, ob der Aktionsplan mit folgenden vier Punkten in Einklang zu bringen ist.

Stau zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik. Grenzschließungen und Kontrollen behindern den Warenverkehr innerhalb Europas. (Foto: Miroslav Chaloupka/dpa)

Erstens darf der Binnenmarkt nicht länger behindert werden. Die Covid-19-Krise hat gezeigt, dass inkonsistente Vorschriften selbst bei absolutem öffentlichen Interesse den Waren- und Dienstleistungsverkehr behindern. Nun sollten wir keine halben Sachen mehr machen und verbleibende Barrieren ein für alle Mal beseitigen.

Die EU muss global handeln, aber aufhören, naiv zu sein

Zweitens muss der Konjunkturfonds eher in die Zukunft als in die Vergangenheit gerichtet werden. Mit einer Kapitalausstattung von wahrscheinlich 1000 Milliarden Euro entspricht dies etwa dem derzeit diskutierten siebenjährigen EU-Haushalt (MFR). Das Konjunkturpaket - einschließlich der Hebelwirkung - ist die bedeutendste Finanzinitiative in der Geschichte unserer Union. Die Beträge würden es der EU ermöglichen, Programme zu finanzieren, die gestern noch undenkbar schienen. Dies ist eine einmalige Gelegenheit. Zwei Grundsätze müssen die Maßnahmen der EU bei der Zuweisung der Hilfsgelder leiten. Erstens die Rentabilität: Es muss eine klare Trennung zwischen den zur Absorption sozialer Schocks erforderlichen Ressourcen und den Ressourcen zur Steigerung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit bestehen. Diese sollten idealerweise mindestens zwei Drittel der Gesamtmenge ausmachen. Ebenso müssen die verfügbaren Mittel in erster Linie den großen Ökosystemen zugewiesen werden, um ein Höchstmaß an Rentabilität zu gewährleisten. Das zweite Prinzip betrifft die Wirkkraft der Hilfen: Ein Gießkannenprinzip ist zu vermeiden, es ist erforderlich, sich auf Forschungs- und Entwicklungsprojekte zu konzentrieren, die dazu beitragen, die weltweite Führungsrolle aufrechtzuerhalten oder zu erlangen. Die von der Kommission befürworteten Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und zur Digitalisierung haben oberste Priorität. Andere Querschnittsthemen wie beispielsweise die Logistik dürfen jedoch nicht übersehen werden. Schließlich müssen wir immer bedenken, dass es einfacher ist, das zu behalten, was wir haben, als das zu erobern, was wir nicht haben. Wir werden daher eine sektorale Politik brauchen, um einige unserer fortschrittlichen Industrien wie die Luftfahrt oder die Automobilindustrie beim Ausstieg aus der Krise zu begleiten.

Drittens muss das Handeln unserer Union global bleiben, aber darf nicht länger naiv sein. Die Covid-19-Krise hat uns zwei Schlüsselwörter auferlegt: Repatriierung und Schutz. Aus gutem Grund und ohne Feindseligkeit gegenüber China muss die EU die Repatriierung der sensibelsten Produktionen erleichtern und eine gesunde Diversifizierung unserer Lieferanten anstreben. Um dies zu erreichen, müssen wir sofort starke strategische Partnerschaften mit Ländern aufbauen, die mit uns komplementär sind und vor denselben Herausforderungen stehen: vor allem Indien, aber auch die Asean-Länder, Japan und vielleicht auch Brasilien. Es ist selbstmörderisch, sich derart an China ausgeliefert zu haben wie etwa in der Produktion von 80 Prozent der Wirkstoffe unserer Medikamente. Die Rückführung sensibler Aktivitäten muss natürlich auf europäischer Basis erfolgen. Bestimmte andere strategische Produktionen können außerhalb der Union bleiben, sofern sie sich diversifizieren. In fünf Jahren muss die Hälfte dessen, was wir in strategischen Bereichen aus China importieren, verlagert sein.

Andrea Canino ist Präsident des Rates für wirtschaftliche Zusammenarbeit unter ständiger Schirmherrschaft der französischen, italienischen, spanischen und portugiesischen Regierung. (Foto: WEF)

Viertens muss das europäische Regierungshandeln effizienter werden. Auch hier gelten zwei Aspekte. Einerseits ist die jüngste Entscheidung der Tschechischen Republik, ihre Grenzen zu Deutschland für ein Jahr zu schließen, der letzte Beleg dafür, dass Angela Merkels Diktum, keiner dürfe zurückgelassen werden, kein Dogma mehr sein kann. Die Zeit läuft davon. Wir müssen sofort eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen jenen Staaten des Nizza-Vertrags einführen, die dazu bereit sind. Zum anderen muss die Lehre aus dieser Krise sein, dass alle ideologischen Kriterien bei der Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Nationalstaaten aufgegeben werden. Alle sind sich heute einig, dass die Prävention und das Management von Pandemien auf EU-Ebene erfolgen müssen. Im Vertrag von Lissabon 2007 wurde jedoch das Gegenteil besiegelt, jegliche EU-Gesundheitskompetenz wurde ausgeschlossen. Die EU muss mit den Aufgaben betraut werden, die sie besser als die Nationalstaaten erledigen kann und bei denen sie ihren Mitgliedern Mindeststandards auferlegt, die einzuhalten sind.

© SZ vom 25.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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