Süddeutsche Zeitung

Forum:Eine Sache der Unternehmen

Die Politik sollte sich nicht weiter in Fragen der Tarifbindung einmischen, ihr Spielraum ist bereits ausgeschöpft.

Die Tarifbindung nimmt ständig ab. Warum? Vielen Arbeitnehmern und Arbeitgebern erscheint eine Mitgliedschaft in Gewerkschaften beziehungsweise Arbeitgeberverbänden nicht mehr opportun. Einerseits wollen jüngere Arbeitnehmer ihre Arbeitsbedingungen lieber selbst gestalten, als sich von Gewerkschaften vorschreiben zu lassen, wann und wie sie zu arbeiten haben. Andererseits stöhnen Arbeitgeber über hohe Personalkosten, und zwar nicht nur über zu hohe Grundvergütungen, sondern vor allem über einen Wust an Zuschlägen für Mehr-, Spät-, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit. Selbst der Grundsatz, dass nur geleistete Arbeit - ausgenommen natürlich die gesetzlich vorgeschriebene Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall - zu bezahlen ist, wird durch zahlreiche tarifliche Freistellungsansprüche aus persönlichen Gründen ohne Anrechnung auf den Urlaub und unter Fortzahlung des Entgelts strapaziert. Noch mehr stören sich Arbeitgeber an fehlender Flexibilität bei der Gestaltung der Arbeitszeit. Und beklagt werden nicht zuletzt zu komplexe, kaum noch verständliche Regelungen.

Das Argument, die Arbeitgeber seien selbst schuld, weil Tarifverträge immer auch ihre Unterschrift trügen, greift nur bedingt. Allzu oft sieht sich die Arbeitgeberseite nämlich gezwungen nachzugeben, um wirtschaftlich äußerst nachteilige Arbeitskämpfe zu vermeiden.

Wozu führt der Frust? Den Gewerkschaften fehlt der Nachwuchs, und manche Arbeitgeber suchen nach Wegen, der Tarifbindung zu entgehen. Dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) ist das ein Dorn im Auge. Arbeitgebern gegenüber wird der Eindruck erweckt, sie seien gut beraten, sich einem Tarifvertrag zu unterwerfen, um sich nicht dem Vorwurf der Aushöhlung der Sozialpartnerschaft auszusetzen. Wer das nicht beherzige, versuche zu "tricksen" oder gar "Lohndumping" zu betreiben. Damit wird ein verfassungsrechtlich geschütztes, untadeliges Verhalten bewusst als "Tarifflucht" kriminalisiert.

Deshalb hat der DGB "Positionen zur Stärkung der Tarifbindung" beschlossen. Der Gesetzgeber soll den Ausstieg aus einer Tarifbindung erschweren, Mitgliedschaften ohne Tarifbindung (OT) erheblich einschränken und zulassen, dass Tarifverträge durch Rechtsverordnung noch leichter als bisher für allgemeinverbindlich erklärt werden können. Gewerkschaften stören sich vor allem an der bisherigen Möglichkeit der Arbeitgeber, im Tarifausschuss durch Veto eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung blockieren zu können.

Dabei wird jedoch verkannt, dass die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen ein Ausnahmeinstrument bleiben muss. Zur Tarifbindung sollte es grundsätzlich nur aufgrund einer freiwilligen Entscheidung der Arbeitgeber kommen.

Schon die geltenden Gesetze gehen an die Grenzen des Verfassungsmäßigen

Vehement wird weiter nach gesetzlicher Zulassung tariflicher Abstandsklauseln zur besseren Werbung potenzieller Gewerkschaftsmitglieder gerufen. Die Klauseln sollen sicherstellen, dass zwischen den Leistungen an tarifgebundene Arbeitnehmer und Außenseiter stets eine gewisse Spanne liegen muss. Erhöhen sich die Leistungen an die Außenseiter, sollen sich die Leistungen an tarifgebundene Arbeitnehmer so erhöhen, dass stets ein gleichbleibender Abstand gegeben ist. Ziel ist, ein "Trittbrettfahren" der Außenseiter zu verhindern.

Damit nicht genug: Der DGB will, dass die Gebundenheit an einen Tarifvertrag bei "Verbandsflucht" anders als bisher nicht schon bei lediglich redaktionellen Änderungen entfällt. Auch soll die Gebundenheit nicht bereits dann für einen gesamten Tarifvertrag entfallen, wenn dieser nur teilweise geändert wird, die nicht geänderten Teile allein aber noch sinnvoll erhalten bleiben können. Und für die Zeit nach Ablauf eines Tarifvertrags wird gefordert, dass auch ab diesem Zeitpunkt neu eingestellte Arbeitnehmer, die der für das Unternehmen maßgebenden Gewerkschaft angehören, unter den Tarifvertrag fallen.

Diese Forderungen sind abzulehnen, da schon das geltende Recht an die Grenzen dessen geht, was verfassungsrechtlich vertretbar ist. Ähnliches und noch mehr ist auch im erst kürzlich verabschiedeten Sozialstaatskonzept der SPD zu lesen. Ein neuer Steuerfreiheitstatbestand für tarifgebundenes Arbeitsentgelt soll sogar in nicht unbeträchtlicher Höhe kreiert werden.

Würde der Gesetzgeber den Gewerkschaften und ihren Mitstreitern auf den Leim gehen, käme es kaum zur Stärkung der Tarifbindung. Vielmehr sähen sich noch mehr Arbeitgeber genötigt, das Weite zu suchen. Eine zunehmend erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nähme übrigens Arbeitnehmern jeglichen Anreiz, sich gewerkschaftlich zu organisieren. An einem kranken die Forderungen besonders: Es wird bewusst negiert, dass das Grundgesetz durch Artikel 9 das schrankenlose Recht gewährleistet, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden. Das umfasst als individuelles Freiheitsrecht ebenso das Recht des Einzelnen, einer Koalition fernzubleiben. Diese negative Koalitionsfreiheit ist gegenüber der positiven Koalitionsfreiheit kein Reflex zweiter Klasse. Beide Grundfreiheiten werden vielmehr gleichermaßen und unterschiedslos gewährleistet.

Der Gesetzgeber sollte die negative Koalitionsfreiheit respektieren. Es kann nicht Aufgabe des Staates sein, zu starke Anreize für Arbeitgeber und/oder Arbeitnehmer zum Eintritt in eine Koalition zu schaffen. Die Grenze wäre bei Spannensicherungs- und Ausschlussklauseln eindeutig überschritten, die Arbeitgebern eine Gleichstellung zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern der tarifschließenden Gewerkschaft faktisch unmöglich machen würde. Das wäre zudem wegen Überschreitung der Tarifmacht unzulässig. Auch ein gesetzliches Verbot von OT-Mitgliedschaften und die gewünschten Steuerfreibeträge für Gewerkschaftsmitglieder verstießen gegen Artikel 9 des Grundgesetzes.

Das vor diesem Hintergrund zulässige Maß an gesetzlichen Regelungen zur Tarifbindung ist schon jetzt mehr als ausgeschöpft. Um die Tarifbindung zu fördern, bedarf es keiner neuen, verfassungsrechtlich kaum noch zu rechtfertigenden Gesetze, sondern beiderseitiger Aktivitäten der Sozialpartner, die das Wort "modern" verdienen. Flächentarifverträge sollten nur Mindestarbeitsbedingungen festlegen und sich am Produktivwachstum der jeweiligen Branche orientieren. Maßvolle, flexible und verständliche Tarifverträge, die einer sich ändernden Arbeitswelt gerecht werden, sind nötig, um Arbeitnehmer und Arbeitgeber zum Verbleib oder Eintritt in Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände mit Tarifbindung zu animieren.

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Quelle:
SZ vom 13.05.2019
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