Süddeutsche Zeitung

Forum:Ein Kita-Platz nur auf dem Papier

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Der Rechtsanspruch von zwei Jahren ist eine gute Sache, hat aber noch keinen durchschlagenden Erfolg. Dafür muss noch sehr viel mehr getan werden.

Von C. Katharina Spieß und Jonas Jessen

Am 1. August feiert der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz ab dem zweiten Lebensjahr seinen sechsten Geburtstag. Er müsste also aus dem Gröbsten raus sein, könnte man denken. Das würde in diesem Fall heißen: Alle Eltern, die ihr Kind in einer Kita betreuen lassen möchten, bekommen einen Platz. Und damit könnten die sozioökonomischen Nutzungsunterschiede also etwa nach Einkommen oder Bildung der Eltern deutlich gesunken sein, wenn alle Gruppen nun ähnliche Nutzungsquoten aufweisen würden. Doch ist dies wirklich eingetreten?

Bevor der Rechtsanspruch 2013 in Kraft trat, war es zunächst einmal genau andersherum: Insbesondere Familien mit zwei erwerbstätigen Elternteilen, bildungsnahe Familien, Familien ohne Migrationshintergrund und Familien oberhalb der Armutsrisikogrenze profitierten absolut betrachtet besonders, die bereits bestehenden sozioökonomischen Nutzungsunterschiede wurden folglich größer. Darüber hinaus lässt sich zeigen, dass der Kita-Ausbau insbesondere das Wohlbefinden von erwerbsorientierten Müttern stark gesteigert hat, mehr als das anderer Mütter. Ein echter Gewinn für die Mittel- und Oberschicht.

Mit der Implementierung des Rechtsanspruchs war zumindest teilweise die Hoffnung verbunden, dass sich diese Ungleichheiten in der Nutzung abbauen würden, denn immerhin stand nun jedem Kind ab seinem ersten Geburtstag ein Platz in einer Kindertageseinrichtung oder einer Kindertagespflege zur Verfügung. Dazu kam es jedoch nicht, vielmehr sind die Nutzungsunterschiede zwischen den Gruppen nach wie vor groß - und teilweise sogar größer geworden. 2017, das zeigen unsere Berechnungen, wurden 47 Prozent der unter drei Jahre alten Kinder einer Akademikerin in einer Kindertagesstätte betreut. Bei Müttern mit einer nicht akademischen Berufsausbildung waren es 30 Prozent, bei Müttern ohne Berufsausbildung 19 Prozent. Macht einen Unterschied von 28 Prozentpunkten zwischen der höchsten und niedrigsten Bildungsgruppe. Zum Vergleich: Im Jahr 2005, also vor Beginn des Kita-Ausbaus für unter Dreijährige, waren es zwölf Prozentpunkte.

Woran liegt das? Möglich ist, dass bildungsferne Familien seltener einen Kita-Platz nachfragen - und es gibt Analysen, die dies auch bestätigen. Warum das so ist, wäre interessant zu ergründen, ist aber eine andere Frage. Klar ist: Wenn eine Kita - ähnlich wie die Grundschule - den Anspruch hat, ein Ort zu sein, an dem Kinder aller Gruppen gemeinsam spielen und ge-fördert werden, dann ist dieser Anspruch nicht erfüllt. Es gibt seit Einführung des Kita-Rechtsanspruchs ab dem zweiten Lebensjahr wie zuvor auch Familien, die ihr Kind in einer Kita betreuen lassen wollen, aber keinen Platz finden und sich offensichtlich noch nicht eingeklagt haben. Neuere Umfragen beziffern den ungedeckten Bedarf bei Kindern unter drei Jahren auf 13 Prozent. Differenziertere Analysen geben Hinweise darauf, dass unter den Gruppen, die bisher in Kitas unterrepräsentiert sind, insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund und in geringerem Maße Kinder bildungsferner Eltern betroffen sind: Die Diskrepanz zwischen Kita-Nutzung und eigentlichem Bedarf beträgt für diese Gruppen 21 beziehungsweise 16 Prozentpunkte.

Unter dem Strich besteht der Rechtsanspruch für manche Eltern also auch im Jahr sechs nach seiner Einführung nur auf dem Papier. Beispielsweise mit Blick auf den Arbeitsmarkt dürften es in der Konsequenz vor allem Mütter sein, die nicht oder nicht im gewünschten Umfang erwerbstätig sein können. Kritisiert man dies, wird der Rechtsanspruch jedoch allein auf das Ziel einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie reduziert. Kindertageseinrichtungen sind jedoch auch Bildungseinrichtungen. Viele internationale Studien geben Hinweise darauf, dass sie mittelfristig Bildungsungleichheiten und sogar langfristig Einkommensungleichheiten reduzieren können. Auch wenn in Deutschland die kompensatorische Funktion von Kindertageseinrichtungen immer wieder hinterfragt wird, geben bildungsökonomische Studien, die mittel- bis langfristige Effekte messen, vielfache Hinweise darauf, dass es eine solche Wirkung gibt. Insbesondere Kinder aus sozioökonomisch schlechtergestellten Familien profitieren also von einem Kita-Besuch - zumindest, wenn man die in der Bildungsökonomie üblichen Ergebnismaße wie Bildung im Erwachsenenalter, Einkommen und Transferabhängigkeit betrachtet. Demnach sollten also insbesondere Kinder aus sozioökonomisch schlechtergestellten Familien nicht durch fehlende Plätze vom Kita-Besuch abgehalten werden. Weitere immense Anstrengungen sind demnach nötig - zumal wenn man bedenkt, dass der Bedarf eventuell sogar noch weiter steigen wird. Denn der Kita-Ausbau und der erweiterte Rechtsanspruch haben auch die sozialen Normen verändert. Der Anteil von Menschen, die denken, ein Kind leide darunter, wenn die Mutter im Kita-Alter arbeitet, hat über die Jahre stark abgenommen. 1990 stimmten dieser Aussage noch 83 Prozent zu, 2017 waren es 34 Prozent.

Nach wie vor wird der Kita-Ausbau vorrangig von den Gemeinden und Ländern gestemmt, auch wenn sich der Bund seit 2004 an der Kita-Finanzierung beteiligt. Mit dem "Gute-Kita-Gesetz" gibt er weitere Gelder in das System, die dann fließen, wenn sich die Länder und der Bund auf Maßnahmen der Qualitätssteigerung oder der Gebührenentlastung geeinigt haben. Eine Verbesserung der Qualität ist ohne Frage zentral, und Kita-Gebühren sollten selbstverständlich so gestaltet sein, dass der Besuch einer Kindertageseinrichtung nicht an den Kosten scheitert. Zu hohe Kosten geben aber nur 17 Prozent der Eltern als Grund für die Nichtnutzung einer Kita an. Vielmehr muss es auch darum gehen, allen Eltern einen qualitativ hochwertigen Platz bereitzustellen und sie über die Potenziale eines guten Kita-Platzes zu informieren. Entsprechende Programme gibt es auch auf Bundesebene. Dennoch gehen die sozioökonomischen Unterschiede bei der Kita-Nutzung nicht merklich zurück.

Weitere Anstrengungen sind nötig. Der Rechtsanspruch ist kein Selbstläufer, muss gefördert und weiterentwickelt werden - immer wieder von Neuem und immer wieder angepasst an veränderte Situationen und Anforderungen. Dabei sind alle gefordert - Bund, Länder und Gemeinden.

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Quelle:
SZ vom 29.07.2019
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