Forum:Drei Dinge korrigieren

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Friedrich Heinemann ist Leiter des Forschungsbereichs "Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft" am ZEW in Mannheim und lehrt Volkswirtschaftslehre an der Universität Heidelberg. (Foto: oh)

Schluss mit unfairem Lobbyismus, weg mit Ideen, die lediglich eine Ausweitung des Haushalts-Budgets zum Inhalt haben: Das neue EU-Parlament muss endlich einen Neuanfang wagen. Das ist wichtiger als die Frage, wer Spitzenjobs erhält.

Von Friedrich Heinemann

Auch wenn die Debatte um die europäischen Spitzenjobs derzeit die Schlagzeilen beherrscht, gibt es für das neue Europäische Parlament wichtigere Fragen. So müssen Parlament und Rat bis allerspätestens Ende nächsten Jahres eine Einigung über den Finanzrahmen der EU für die Jahre 2021 bis 2027 finden. Diese Entscheidung wird die Politik der Union im kommenden Jahrzehnt maßgeblich prägen und ist von weit größerer Bedeutung als Nationalität oder Parteibuch des EU-Kommissionspräsidenten.

Bei dieser weit reichenden Weichenstellung ist eine deutliche Korrektur dringend notwendig. Der europäische Haushalt leidet seit Langem an einem gravierenden Ungleichgewicht. Immer noch fließen zwei Drittel aller Gelder in die "Gemeinsame Agrarpolitik" (GAP) und die Strukturfonds. Demgegenüber sind die Budgets für übergreifende europäische Zukunftsaufgaben von Klima- über Migrations- bis hin zur Verteidigungspolitik viel zu gering. Eigentlich sollte sich der EU-Haushalt auf die Finanzierung solcher Politiken konzentrieren, die wirklich einen europäischen Mehrwert schaffen. Tatsächlich finanziert Brüssel auch im 21. Jahrhundert immer noch ökonomisch, ökologisch und sozial unsinnige Transfers an oftmals sehr wohlhabende Landwirte. Ebenso zweifelhaft sind Teile der Strukturfonds, bei denen Brüssel sogar in wohlhabenden Regionen reicher Mitgliedstaaten Projekte bezahlt.

Wer trägt die Verantwortung für diese verfehlte Ausgabenstruktur des EU-Haushalts? Ein im Europäischen Parlament verbreiteter Mythos schreibt die Verantwortung alleine dem Rat und dem Egoismus der nationalen Regierungen zu. Nach dieser Selbstsicht ist das Parlament reformorientiert, scheitere aber immer wieder an den nationalen Akteuren im Rat mit ihrer verengten Perspektive. Diese Sichtweise ist verzerrt und verschleiert die Mitverantwortung des Parlaments für die verfehlte EU-Haushaltspolitik. Es stimmt zwar, dass die nationalen Regierungen in EU-Finanzverhandlungen einseitig auf die Rückflüsse in ihr jeweiliges Land schielen. Agrarsubventionen und Strukturfonds vor Ort erscheinen viel attraktiver als der Schutz der Außengrenzen oder ein Entwicklungshilfeprojekt in Afrika. Der Nutzen der fernen Projekte mag für Europa noch so groß sein, er ist aber zu indirekt und wenig sichtbar, um für nationale Politiker und ihre Wähler wirklich vorrangig zu sein.

Falsch ist jedoch die Sicht von der angeblich größeren Reformorientierung des Europäischen Parlaments. Seit dem Lissabon-Vertrag ist das Parlament in der Agrar-Gesetzgebung mit dem Rat gleichberechtigt. Das Parlament hat diesen Machtzuwachs als beinharter Verteidiger des Status quo auf dem Gebiet der großen Transferpolitiken eingesetzt. Auch die Parlamentarier freuen sich, wenn sie EU-Gelder für ihren Wahlkreis zu Hause mobilisieren können.

Zugleich sind Schlüsselpositionen im Parlament viel zu oft mit Interessenvertretern besetzt. Dies gilt in besonderer Weise für den bei Fragen der Agrarsubventionen wichtigen Ausschuss Landwirtschaft und ländliche Entwicklung. Mitglieder dieses Ausschusses haben aufgrund ihrer beruflichen Herkunft häufig eine enge Beziehung zur Landwirtschaft. Nicht selten sind sie selbst Bauern oder haben in ihren Heimatländern Funktionen in Landwirtschaftsverbänden oder -ministerien inne gehabt. In der abgelaufenen Legislaturperiode haben sogar Parlamentarier im Landwirtschaftsausschuss gesessen und die Agrar-Gesetzgebung maßgeblich mitbeeinflusst, die persönlich als Landwirte EU-Subventionen in erheblichem Umfang erhalten. Außerdem entsenden die Fraktionen überproportional Vertreter in den Agrarausschuss, die aus Ländern mit einer besonders ausgeprägten Unterstützung für die traditionelle Landwirtschaft stammen.

Ein Parlament, das den entscheidenden Ausschuss in diesem Ausmaß für Lobbyisten öffnet, ist ganz offenbar nicht wirklich an einer unvoreingenommenen Überprüfung dieser Politik interessiert. Man stelle sich vor, das Parlament ließe die europäischen Abgasnormen von Parlamentariern verhandeln, die in ihrem Privatberuf überwiegend im Dienst der Auto- oder Chemieindustrie stehen. Mit Recht würde dies als inakzeptabel beurteilt; für den Agrarausschuss ist diese Unart hingegen eine Selbstverständlichkeit. Es ist immer wieder verblüffend, welche Sonderbehandlung die Landwirtschaft gegenüber anderen Wirtschaftszweigen erhält. Und das gilt eben auch im Hinblick auf eine hohe Toleranz für die Präsenz von Lobbyisten bis hinein ins Herz der parlamentarischen Arbeit.

Es gibt allerdings tatsächlich einen wichtigen Unterschied zwischen den Positionierungen von Rat und Parlament in der Debatte um den nächsten Finanzrahmen, nur ist der für das Parlament nicht wirklich schmeichelhaft: Eine große Mehrheit der Abgeordneten möchte neue Einnahmequellen für den EU-Haushalt eröffnen und die Ausgaben stärker ausweiten, als dies insbesondere den reicheren EU-Staaten im Rat vorschwebt. Mit anderen Worten: Der Konflikt zwischen überkommenen und notwendigen neuen EU-Politiken soll "gelöst" werden, indem Europa einfach beides finanziert und das Haushaltsvolumen kräftig nach oben fährt. Auch wenn dies eine bequeme Strategie sein mag, verantwortungsvoll und realistisch ist sie nicht. Sie ist nicht verantwortungsvoll, weil sie eine erhebliche Mittelvergeudung ohne überzeugende europäische Rechtfertigung in Kauf nimmt. Und ihr fehlt der Realismus, weil die Nettozahler im Rat nach dem Brexit ganz gewiss keiner starken Budget-Ausweitung zustimmen werden.

Wie könnte das neue Parlament einen wirklich glaubwürdigen Beitrag für eine Reform des EU-Haushalts leisten? Hier sollten die Abgeordneten der pro-europäischen Gruppierungen nicht die Fehler ihrer Vorgänger machen und endlich drei Dinge korrigieren:

Erstens muss das Parlament den Lobbyisten-Einfluss in den maßgeblichen Ausschüssen zurückdrängen. Der Landwirtschaftsausschuss sollte nur mit Parlamentariern besetzt werden, die keine beruflichen oder privaten Interessen an einer Fortdauer des Subventionsregimes haben. Zweitens sollte das Parlament seine unrealistischen Träume von einer starken EU-Budgetausweitung und von neuen Einnahmequellen aufgeben. Und drittens sollte es die beiden großen Transferpolitiken - Agrar- und Kohäsionspolitik - grundlegend auf den Prüfstand stellen und eine umfassende Umlenkung der Mittel in die europäischen Zukunftsaufgaben einleiten. Das wäre endlich der Beweis, dass es die proeuropäischen Parteien im Parlament wirklich ernst meinen mit ihrer Absage an nationale und sektorale Einzelinteressen.

© SZ vom 17.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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