Bei großen Investmentgesellschaften wie etwa Blackrock oder Vanguard sind spezialisierte Corporate-Governance-Teams für die Wahrnehmung ihrer Aktionärsrechte verantwortlich. Diese umfassen auch bei diesen großen Gesellschaften kaum mehr als 30 Manager, obwohl sie schnell mal für mehr als 15 000 Hauptversammlungen verantwortlich sind. Selbst wenn ein Teil dieser Last auf Stimmrechtsberater ausgelagert wird, kann man sich nur schwer vorstellen, wie vor diesem Hintergrund eine intensive Wahrnehmung der Aktionärsrechte möglich sein soll.
Nun möchte ich gar nicht in das Konzert all derer einstimmen, die hieraus einen Vorwurf gegenüber diesen Investmentgesellschaften ableiten. Denn dieses Verhalten ist völlig rational. Man darf nicht vergessen, dass bei Blackrock von den mehr als sechs Billionen Dollar, die das Unternehmen verwaltet, zwei Drittel in passiven Fonds (unter anderem ETFs) stecken. Bei Vanguard dürfte dieser Anteil sogar noch höher sein. Und für einen passiv verwalteten Fonds gibt es nüchtern betrachtet nicht den geringsten Grund, warum er sich um die Geschicke eines Unternehmens kümmern sollte. Natürlich behaupten die Investmentgesellschaften das Gegenteil, allein wirtschaftlich rational ist das nicht. Das Leistungsversprechen eines passiven Fonds besteht darin, zu sehr niedrigen Kosten einen vorgegebenen Index möglichst exakt nachzubilden.
Ob der Aktienkurs eines Unternehmens, das sich in dem vom ETF nachgebildeten Index befindet, steigt oder fällt, spielt für den ETF keine Rolle. Er hat dem Kunden nur versprochen, diesen Index nachzubilden, egal in welche Richtung er sich bewegt. Deshalb gibt es einen immanenten Interessenkonflikt zwischen dem ETF und seinen Anlegern.
Interessenkonflikte von institutionellen Anlegern im Allgemeinen in Fragen der Corporate Governance und die Passivität von ETFs im Besonderen werden schon seit Längerem diskutiert. Weil aber Passivität bestimmten institutionellen Investoren immanent ist, halte ich es für den falschen Weg, diese Investoren zu Governance-Aktivitäten zu zwingen. Daher wird in diesem Punkt die vor Kurzem verabschiedete Aktionärsrechtsrichtlinie scheitern. Ebenso wie der Jäger, den man zum Jagen tragen muss, wird auch ein passiver Investor, dem es an einem ökonomischen Interesse an Governance-Aktivitäten fehlt, bestenfalls bescheidene Beute machen. Hinzu kommt, dass ein gesetzlicher Zwang zur Wahrnehmung von Aktionärsrechten durch passive institutionelle Investoren sogar zu einer Verschlimmbesserung führen kann. Denn die Wahrnehmung dieser Rechte kann nur zu effizienten Ergebnissen führen, wenn die Entscheider auch die Folgen von Fehlentscheidungen zu tragen haben.
Investoren könnten freiwillig erklären, auf die Wahrnehmung von Stimmrechten zu verzichten
Aus Sicht eines passiven Investors gibt es aber gar keine Fehlentscheidungen, weil für ihn die Frage, ob der Unternehmenswert fällt oder steigt, nahezu irrelevant ist. Es droht also eine gefährliche Herrschaft einer mit falschen Anreizen ausgestatteten Mehrheit (passive Investoren). Hingegen würde eine mit genuinen Eigentümerinteressen ausgestattete Minderheit (aktive Investoren) eher gewährleisten, dass die aus Sicht der Aktionäre jeweils besten Entscheidungen getroffen werden. Was wäre also zu tun? Zunächst einmal würde es die Qualität von Governance-Aktivitäten verbessern, wenn Gruppierungen, die ein wirtschaftliches Interesse an der Durchsetzung von Aktionärsinteressen haben, wie etwa vermögende Privatpersonen oder aktive Investoren, ein stärkeres Gewicht bekämen. Dies würde genau dann passieren, wenn das Stimmrecht von passiven Investoren weniger Gewicht hätte. Daraus sollte man aber nicht den Vorschlag ableiten, dass man ETFs und anderen passiven Investoren ihr Stimmrecht wegnehmen sollte. Das wäre allein schon aus verfassungsrechtlichen Gründen abwegig. Zudem würde er sich in der Praxis nicht durchsetzen lassen, weil es hierfür einer Legaldefinition eines passiven Investors bedürfte, die es weder gibt noch in einfacher Weise einzuführen wäre.
Worüber man hingegen nachdenken könnte, wäre eine Lösung, bei der es gerade erwünscht ist, dass passive Fonds auf ihr Stimmrecht, an dem ihnen ohnehin nichts liegt, freiwillig verzichten. Zu diesem Zweck müsste die Aktionärsrichtlinie zunächst nur um einen Punkt ergänzt werden. Institutionellen Anlegern wird eine Opt-out-Klausel eingeräumt. Sie können demnach freiwillig erklären, auf die Wahrnehmung von Stimmrechten aus den von ihnen gehaltenen Aktien zu verzichten. Im Gegenzug werden sie von sämtlichen Mitwirkungs- und Transparenzverpflichtungen, die sich auf die Wahrnehmung von Stimmrechten beziehen, befreit.
Dies wäre immerhin ein erster Schritt für eine ehrlichere Lösung des angesprochenen Interessenkonfliktes. Man darf sich davon aber auch nicht zu viel erhoffen, weil es zu bezweifeln ist, dass passive Fonds diese Möglichkeit in großer Zahl nutzen würden. Die genannten Mitwirkungs- und Transparenzverpflichtungen sind zwar mit Kosten verbunden, gerade für große Fonds fallen diese aber kaum ins Gewicht. Hingegen könnte die öffentliche Kritik an einem offen passiven - wenngleich aber ökonomisch völlig rationalen - Verhalten gefährlich für die Reputation dieser Häuser sein.
Dieses Problem ist nur schwer zu lösen. Man müsste dafür schon einen etwas kühneren Gedanken fassen. Das obige Kalkül würde sich ändern, wenn man diesen passiven Fonds erlauben würde, bei Verzicht der eigenständigen Wahrnehmung der Stimmrechte diese veräußern zu dürfen (und nicht einfach kostenlos auf Stimmrechtsberater zu übertragen, wie das heute nicht unüblich ist). Man könnte also für die von diesen Fonds gehaltenen Aktien einen Markt für Stimmrechte etablieren. Für die Fonds wäre dies eine attraktive zusätzliche Ertragsquelle, ebenso wie sie das heute bereits mit der Wertpapierleihe betreiben.
Gleichzeitig könnten informierte Minderheiten durch einen entsprechenden Kapitaleinsatz ihren Stimmrechtsanteil vergrößern und damit die Durchsetzbarkeit ihrer Forderungen verbessern. Es ist offensichtlich, dass gerade dort, wo wichtige Entscheidungen anstehen oder offenkundig gewordene Managementfehler zu beseitigen sind, dies zu regelrechten Stimmrechtskämpfen führen würde. Natürlich birgt ein solcher Markt für Stimmrechte auch Gefahren, auf die ich hier mangels Platz nicht näher eingehen kann. Fest steht aber, dass Stimmrechte, die von immanent passiven Investoren auf immanent aktive Investoren übertragen würden, einen effektiveren Beitrag zur Durchsetzung von Aktionärsinteressen leisten würden.