Süddeutsche Zeitung

Forum:Der deutsche Irrweg

Lesezeit: 3 min

Die Ursachen der Lohnschwäche sind Deregulierung und Sozialabbau.

Von Dierk Hirschel

Der deutschen Wirtschaft geht es gut. Die Unternehmen erzielen Rekordgewinne, die Beschäftigung wächst, und die Arbeitslosigkeit schrumpft. Die Wohlstandsgewinne kommen aber nicht bei allen an. Die Bruttolöhne stiegen letztes Jahr nach Inflation nur um 0,8 Prozent. Und die Einkommen sind ungleich verteilt: Zwei von fünf Beschäftigten haben heute weniger auf dem Konto als vor 20 Jahren.

Die deutschen Löhne stehen am Pranger. EZB-Chef Mario Draghi, IWF-Direktorin Christine Lagarde und OECD-Generalsekretär Ángel Gurría wollen unseren Arbeitseinkommen Beine machen. SPD-Chef Martin Schulz möchte ebenfalls mehr Geld für Arbeitnehmer. Gut gebrüllt, Löwe! Doch an wen ist der Appell gerichtet? Die Gewerkschaften erstritten seit der Finanzmarktkrise höhere Abschlüsse, die Tariflöhne kletterten real um zehn Prozent. Dass nicht mehr rauskam, lag nicht am fehlenden Willen. Aus wirtschaftlicher Sicht haben die Entgelte noch Luft nach oben. Die Bundesbanker empfehlen ein jährliches Lohnwachstum von drei Prozent und orientieren sich damit am verteilungsneutralen Spielraum aus Produktivitätsplus und Inflation. Unterdessen rätselt die ökonomische Zunft über die Ursachen der Lohnschwäche. Warum ernten die Arbeitnehmer trotz Vollbeschäftigung keine größeren Früchte?

Der Arbeitsmarkt ist kein Kartoffelmarkt, wo der Preis - sprich der Lohn - allein durch Angebot und Nachfrage bestimmt wird. Der Verdienst ist abhängig von der Verhandlungsmacht der Beschäftigten. Beschäftigte und Arbeitgeber begegnen sich aber nicht auf Augenhöhe. Die Beschäftigten müssen mangels Vermögen ihre Arbeitskraft verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Starke Gewerkschaften und ein wirksamer Sozialstaat können diese Schieflage genauso korrigieren wie ein Mangel an Arbeitskräften. Was läuft da schief?

In den letzten Jahrzehnten gerieten die Gewerkschaften immer mehr unter Druck. Heute ist nicht einmal jeder fünfte Arbeitnehmer organisiert. Verdi, IG Metall & Co. verhandeln nur noch für drei von fünf Beschäftigten. Folglich wurde deren Einkommenskuchenstück kleiner. Die Schuldigen sind schnell gefunden. Berliner Spitzenpolitiker und Ökonomen behaupten, dass die Arbeitnehmer Opfer der Globalisierung und Digitalisierung wurden. Chinesen, Inder, Bulgaren, Roboter und Computer fressen angeblich deutsche Löhne auf. Das ist ökonomischer Unfug. Die Löhne befinden sich nicht im Würgegriff der Globalisierung. Die deutsche Wirtschaft exportiert mehr Güter, als sie einführt. Das gilt auch für den Warentausch mit Niedriglohnländern. Die weltmarktabhängigen deutschen Auto- und Maschinenbauer, Chemie- und Pharmaproduzenten zahlen die höchsten Gehälter. Ihr moderner Kapitalstock und ihre hohe Produktivität machen es möglich. Deswegen können Volkswagen, Siemens und BASF problemlos mit Billiglohnherstellern der Schwellenländer konkurrieren. Es ist kein Zufall, dass Niedriglöhne überwiegend in Dienstleistungsbranchen wie Gastronomie und Einzelhandel gezahlt werden, die nicht im internationalen Wettbewerb stehen. Der große deutsche Niedriglohnsektor ist keine schmerzhafte Nebenwirkung des internationalen Kapitalismus, sondern hausgemacht.

In Österreich und Skandinavien verhandeln Gewerkschaften für die meisten Beschäftigten

Auch die Digitalisierung bremste die Löhne nicht. Noch ist die digitale Revolution kein Jobkiller. Im Gegenteil: Die Erwerbstätigkeit steigt. Zweifelsohne bringt die digitale Arbeitswelt neue Formen des Lohndumpings hervor. Wer seine Arbeitskraft im Netz auf Abruf anbietet, verzichtet auf Mindestlohn, Lohnfortzahlung und Urlaubsgeld. Die Bedeutung der Plattform-Ökonomie ist aber überschaubar.

Einige Nachbarn entzauberten bereits den Mythos vom lohnfressenden Strukturwandel. Der Sturm der Globalisierung wütete auch in Belgien, Österreich, Dänemark und Schweden. Auch dort wälzten digitale Plattformen, Big Data und künstliche Intelligenz die Arbeitswelt um. Die Beschäftigten wurden aber nicht an die Wand gedrückt. Die Tarifsysteme blieben stabil. Die Gewerkschaften verhandeln weiterhin für 80 bis 100 Prozent der Beschäftigten. Die Zahl der schlecht Entlohnten und prekär Beschäftigten hält sich in Grenzen. Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Es ist nationale Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die den Unterschied macht.

Das gilt auch für Deutschland. Die Schröder-Regierung entwertete und entgrenzte mit der Agenda 2010 menschliche Arbeit. Die Deregulierung des Arbeitsmarktes und der Umbau der sozialen Sicherungssysteme fluteten das Land mit billigen und unsicheren Jobs. Die Drohung mit dem Hartz-IV-Armutskeller machte die Belegschaften erpressbar. Dieser größte Sozialabbau der Nachkriegsgeschichte unterhöhlte die Tarifverträge und entkräftete die Gewerkschaften. Mit offenen Grenzen oder digitalem Wandel hat das nichts zu tun.

Der Aufschwung kann den Schwächeanfall der organisierten Arbeit nicht heilen. Auf den ersten Blick stärken zwar mehr Jobs und weniger Arbeitslose die Durchsetzungsmacht der Arbeitnehmer. Das vermeintliche Jobwunder war aber keines. Viele Unternehmen zerlegten Vollzeit- in Teilzeit- und Minijobs. So konnten die Nürnberger Zahlenakrobaten neue Jobrekorde melden. Und bei den Arbeitslosenzahlen spielt das Arbeitsamt den Magier. Eine Million Menschen verschwinden aus der Statistik, da Erwerbslose in Weiterbildung und Kranke nicht mitgezählt werden. Vollbeschäftigung? Fehlanzeige! Damit wäre das große Lohnrätsel gelöst: Politische Schwächung der gewerkschaftlichen Lohnsetzungsmacht plus kreative Buchführung.

Wenn die Löhne stärker steigen sollen, muss sich die Machtbalance in der Arbeitswelt verändern. Hier sind zuerst die Gewerkschaften am Zug. Sie müssen gewerkschaftsfreie Zonen erschließen und die Ränder des Arbeitsmarktes besser organisieren, um ihre Macht auszubauen.

Sehr große Verantwortung trägt die Politik. Die nächste Regierung muss den Arbeitsmarkt neu ordnen. Zunächst sollte das Tarifsystem gestärkt werden. Tarifverträge müssen so lange nachwirken, bis ein neuer Vertrag an ihre Stelle tritt. Zudem sollten Tarifverträge leichter allgemein verbindlich erklärt werden können. Ferner muss reguläre Beschäftigung gefördert, prekäre Jobs diskriminiert und gleiche Arbeit gleich bezahlt werden. Der Mindestlohn sollte vorübergehend stärker erhöht werden als die Tariflöhne. Der Arbeitszwang muss durch eine Reform der Hartz-Gesetze abgeschwächt werden. Diese Neuordnung des Arbeitsmarktes würde den Beschäftigten helfen, höhere Löhne durchsetzen. Die schwarz-roten Sondierungsgespräche werden zeigen, wie wichtig Arbeitnehmerinteressen für eine neue Regierung sind.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3815888
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 08.01.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.