Süddeutsche Zeitung

TTIP:Das Märchen von den Standards

Mit TTIP sollen amerikanische und europäische Normen und Vorschriften angeglichen werden. Das geht aber auch ganz ohne Freihandelsabkommen.

Von Thilo Bode

Bundeskanzlerin Angela Merkel und US-Präsident Barack Obama wollten bei ihrem Besuch der Hannover-Messe noch einmal richtig Druck machen für das Freihandelsabkommen TTIP: Die Konzernbosse sollen doch bitte schön die Vorteile des Abkommens noch überzeugender verkaufen. Angesichts der vergangene Woche geleakten Verhandlungspapiere wirkt diese Aufforderung wie ein Hohn. Sollen uns weiter Märchen erzählt werden? Schon die Versprechungen von Wachstum und Beschäftigung durch TTIP waren krass aufgebauscht und haben die Glaubwürdigkeit der TTIP-Befürworter nachhaltig erschüttert. Gelernt haben sie aber offensichtlich nichts daraus: Ein weiteres Märchen, das uns aufgetischt wird, ist das Märchen von den Standards.

Bei TTIP und Ceta, dem Handelsabkommen mit Kanada, geht es weniger darum, Zölle zu senken, als um "regulatorische Konvergenz": Technische Standards, Normen und Zertifizierungsvorschriften für Industriegüter, aber auch Schutzvorschriften wie Grenzwerte für giftige Chemikalien sollen angeglichen werden und damit handelsfördernd wirken. So weit die Idee - nun das Märchen: Wenn Europa nicht gemeinsam mit den USA derartige harmonisierte Standards setze, wäre dies eine "mittlere Katastrophe" (Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel), denn dann würden andere - notabene die Chinesen - die Regeln für den Welthandel bestimmen, Europa würde vom "Welthandel abgekoppelt". Und dann, so Gabriel weiter, würden uns "unsere Kinder verfluchen".

TTIP würde Konzerninteressen noch mehr als bisher zum Maß der Dinge machen

Dieses Märchen ist mindestens so unglaubwürdig wie jenes vom Wachstum. Konzerne agieren global über territoriale Grenzen hinweg. Sie fertigen dort, wo die Nachfrage besteht, nach den jeweils dort geltenden Standards. Und wenn es in ihrem Interesse ist, betreiben sie die Annäherung technischer Vorschriften ganz ohne TTIP. Für Telekommunikationsgeräte etwa hat die EU mit mehreren außereuropäischen Ländern - darunter den USA - ein Abkomen über die gegenseitige Anerkennung von Zulassungsvorschriften geschlossen. Außerdem sind die TTIP-Verhandlungen über die Angleichung von technischen Standards, etwa im Maschinenbau, festgefahren. Eine Mehrheit der deutschen Industrie-Unternehmen spricht sich gegen die wechselseitige Anerkennung von EU- und US-Standards aus, wie eine repräsentative Untersuchung des Deutschen Instituts für Normung (DIN) ergeben hat. Die Firmen befürchten Wettbewerbsnachteile beim Export in die USA, weil sie dort keine flächendeckend harmonisierten Standards vorfinden - ganz im Gegensatz zu ihren US-Konkurrenten, die als Exporteure von den einheitlichen Normen in der EU profitieren. Während die europäischen Unternehmen deshalb eine Übernahme der internationalen ISO-Standards wollen, lehnen dies die USA ab. DIN-Vorstandsmitglied Rüdiger Marquardt ließ auf der Hannover-Messe seinem Frust freien Lauf: "Die wollen ihre eigenen Standards haben", mokierte er sich über die US-Unterhändler. Damit entpuppt sich ein weiteres Versprechen als pure Illusion: dass nämlich TTIP "im Kern ein Förderprogramm für den Mittelstand" sei, so Ex-Finanzminister Peer Steinbrück.

Richtig bizarr wird es, wenn es um soziale und ökologische Standards geht. Es ist erneut Sigmar Gabriel, der das Schreckgespenst an die Wand malt, ohne TTIP wäre Europa "gezwungen", die Standards eines - noch in den Sternen stehenden - Freihandelsabkommens zwischen den USA und China zu übernehmen. Wieso eigentlich? Wer zwingt uns denn, schlechtere Standards einzuführen - sei es bei Qualitäts-Babynahrung, Chemikalien oder den Rechten von Arbeitnehmern? Außerdem muss es eine rote Linie geben: Wollen wir im EU-Binnenmarkt mit einer halbe Milliarde Menschen wirklich unsere Errungenschaften im Verbraucher-, Gesundheits- oder Umweltschutz aufgeben, weil uns das angeblich der internationale Handel diktiert?

Auch ohne das Mega-Abkommen TTIP können wir dort, wo es uns nicht schadet, Verbraucherschutz-Standards international anpassen, um den Austausch von Gütern zu fördern. Wie bei den technischen gibt es auch bei den sozial-ökologischen Standards hierfür bereits erprobte Mechanismen und Beispiele. In einem zwischen Europa und den USA geschlossenen Abkommen erkennen die beteiligten Länder zum Beispiel die Zertifizierungsverfahren für ökologische Lebensmittel gegenseitig an und ermöglichen so den freien Handel zwischen Europa und den USA.

Warum dann unbedingt ein solches Abkommen? Tatsächlich hat für die TTIP-Unterstützer die Angleichung bestehender Standards gar nicht die oberste Priorität. Vielmehr sehen Konzerne durch TTIP und Ceta ihre große Chance darin, noch mehr Einfluss auf die "Weiterentwicklung" zukünftiger Standards zu bekommen. Die jüngst geleakten Papiere zu TTIP haben das überdeutlich gemacht. Der in den Abkommen hierfür vereinbarte Mechanismus ist die sogenannte "regulatorische Zusammenarbeit", die nach Inkrafttreten der Verträge weiter besteht. Der Audi-Vorstandsvorsitzende Rupert Stadler spricht das völlig offen aus: Entscheidend sei, dass sich die EU und die USA darauf verständigten, künftige Vorschriften im Automobilsektor in gegenseitigem Einvernehmen zu verabschieden und anzuwenden. Und es kann getrost davon ausgegangen werden, dass die Industrie in den USA und in der EU alles daransetzen wird, strengere Vorgaben zu verhindern.

Überträgt man die Aussage vom Automobilsektor auf Lebensmittel, auf den Gesundheitsschutz oder auf Arbeitnehmerrechte, wird die Brisanz erst recht deutlich: Die Standards beiderseits des Atlantiks sind ja keineswegs Goldstandards, sondern höchst verbesserungswürdig. Sie zu verbessern, kostet jedoch Geld, während es das erklärte Ziel von TTIP und Ceta ist, Kosten durch den Abbau von Handelshemmnissen zu senken. Der Widerstand der Wirtschaft ist deshalb logisch. Schon jetzt verhindern Wirtschaftslobbyisten erfolgreich notwendige Weiterentwicklungen, die dem Allgemeinwohl dienen: von der überfälligen Regulierung des Finanzsektors über den Datenschutz bis hin zu einer transparenteren Kennzeichnung von Lebensmitteln - die Liste ist lang. Deshalb wird TTIP gesellschaftspolitischen Fortschritt noch mehr erschweren und Konzerninteressen noch mehr als bisher zum Maß der Dinge machen.

So gesehen erscheint die Zusicherung, TTIP und Ceta würden das bestehende Niveau im Verbraucher-, Gesundheits- und Umweltschutz nicht absenken, in einem ganz anderen Licht: Es handelt sich schlichtweg um ein Märchen. In Wirklichkeit ist TTIP eine Bedrohung unserer Demokratie.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2984355
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 09.05.2016/hgn
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.