Süddeutsche Zeitung

Forum:Berechenbare Zukunft

Strategische Autonomie und vorausschauendes Handeln sind besser als eine wirtschaftliche und politische Abschottung Europas.

Von Lars Brozus und Leopold Schmertzing

In Politik und Wirtschaft ist Krisenmanagement zum Normalfall geworden. Ursache dafür sind die vielen überraschenden Ereignisse der vergangenen 20 Jahre, vom 11. September 2001 bis zur Covid-19-Pandemie. Diese Krisen zeigen die Notwendigkeit einer politischen und wirtschaftlichen Debatte über das richtige Maß gegenseitiger Abhängigkeit. Die Verbindung von strategischer Autonomie mit systematischer Vorausschau nimmt protektionistischen und populistischen Forderungen den Wind aus den Segeln.

Die Krisen der vergangenen zwei Jahrzehnte haben es in sich. Dazu zählen der 11. September 2001, die globale Finanz- und Wirtschaftskrise 2008, die Krise der Euro-Zone 2010, die Annexion der Krim durch Russland 2014, die Brexit-Entscheidung 2016, die Amtszeit Donald Trumps und seit 2020 die Covid-19-Pandemie - die Liste ließe sich problemlos erweitern. Die Auswirkungen auf die internationalen Wirtschaftsbeziehungen waren und sind gewaltig: der Verfall von Öl- und Rohstoffpreisen, Unternehmenszusammenbrüche und drohende Staatsbankrotte samt den entsprechenden Auswirkungen auf die Finanzmärkte. Manche Krise ging mit Sanktionen einher, andere blockierten jahrelang die Aufmerksamkeit der Verantwortlichen zulasten zukunftsrelevanter Politikfelder wie des technologischen Wandels.

Insbesondere die ökonomischen Disruptionen führten zu einem Bedeutungsgewinn nationalistischer und populistischer Politikangebote, die ihre Anhängerschaft unter den von den wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen besonders betroffenen Teilen der Bevölkerung fanden. In den USA und Großbritannien haben die politischen Schlachtrufe "America first" und "Take back control" tiefen gesellschaftlichen Widerhall gefunden. Dass die Krisenerfahrungen zum Vertrauensschwund in internationale Kooperation beigetragen und die ökonomischen und politischen Zentrifugalkräfte gestärkt haben, verdeutlichen auch die - nicht nur in diesem Superwahljahr - öffentlichkeitswirksamen Forderungen nach einer Abschottung Europas. Wirtschaftlich ist dies unter Bedingungen globaler Interdependenz und Konnektivität jedoch kaum ohne erhebliche ökonomische Verwerfungen zu haben. Politisch widerspricht die Idee einer "Festung Europa" sowohl den Interessen als auch den Werten der in der EU vereinigten Demokratien.

Die Corona-Krise offenbart eine strukturelle Schwäche des globalisierten Wirtschaftssystems

Auch wenn man den Forderungen nach Abschottung daher skeptisch gegenübersteht, die Corona-Krise offenbart eine strukturelle Schwäche des globalisierten Wirtschaftssystems: Je weiter die horizontale wie auch vertikale Integration von Produktionsprozessen und Lieferketten voranschreitet, desto größer fallen Konnektivität und Interdependenz auf globaler Ebene aus. Beides geht mit einer ausgeprägten wechselseitigen Verwundbarkeit einher, insbesondere mit Blick auf die Wirtschaftsbeziehungen. Eine Disruption wie der gleichzeitige Angebots- und Nachfrageeinbruch während der Pandemie wächst sich daher rasch zu einer Konnektivitätskrise aus, wenn nicht politisch gegengesteuert wird. Notwendig wäre die internationale Koordination von effektiven Gegenmaßnahmen, die in der Pandemie indes kaum zu beobachten ist. Die Kritik am Multilateralismus wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung: Die Staaten schotten sich voneinander ab, bis hin zu unkoordinierten Grenzschließungen und dem Horten von Vorräten, etwa von Schutzausrüstung oder Impfstoffen. So verschärft die Governancekrise die ökonomische Konnektivitätskrise.

Strategische Autonomie zielt hingegen darauf, die notwendigen Fähigkeiten aufzubauen, um auch dann handeln zu können, wenn sich die Bedingungen für internationale Austauschprozesse plötzlich verschlechtern. Damit wird dem Druck entgegengewirkt, in Krisenzeiten mit Forderungen nach ökonomischer Abkopplung gegenüber einer nationalen Wählerschaft Führungsstärke zu demonstrieren. Wenn strategische Autonomie funktioniert, kann sie die Handlungsfähigkeit der EU so weit stärken, dass populistische Reaktionen Randerscheinungen bleiben, die für Europa so wichtige internationale wirtschaftliche Arbeitsteilung fortbesteht und die europäische Öffentlichkeit Vertrauen in den Staat und in die Brüsseler Institutionen zurückgewinnt.

Damit strategische Autonomie allerdings nicht zur Abschottung mutiert, muss sie durch eine ausgeprägte Zukunftsorientierung komplementiert werden, die sowohl die Interessen und Perspektiven anderer Akteure als auch die für die Bewältigung der globalen Herausforderungen notwendigen Anpassungen und transformativen Schritte im Blick hat. Neben europäischer Handlungseffektivität ist dabei globale Zukunftsfähigkeit die entscheidende Variable. Die aufgrund der Konnektivitätskrise fällige Rekalibrierung von Interdependenz und Autonomie bedeutet für den europäischen Kontext somit nichts weniger als die Auseinandersetzung mit dem künftigen Wirtschafts-, Gesellschafts- und Politikmodell, um für die kommenden Krisen besser aufgestellt zu sein.

Neue Methoden helfen, Ereignisse vorherzusagen und sich auf Risiken besser vorzubereiten

Für die systematische Vorbereitung auf die Zukunft kann ein breites Methodenspektrum genutzt werden. Neue Forecasting-Techniken haben eine nachweislich hohe Trefferquote bei konkreten Ereignisvorhersagen, sodass sich wahrscheinlichere von weniger wahrscheinlichen Risiken unterscheiden lassen, was gezielte Vorsorgeentscheidungen erleichtert. Zukunftsszenarien denken die Auswirkungen von Inaktivität, möglichen Anpassungen und riskanten Transformationen vor. Horizon Scanning wird für die frühzeitige Erkennung denkbarer Disruptionen und Trends eingesetzt. Und Red Teaming befasst sich mit dem, was für undenkbar gehalten wird.

Letztlich heißt vorausschauendes Handeln aber auch, zu wissen, welche Zukunft man anstrebt und welche man vermeiden will. Während der Pandemie gab es zeitweise Engpässe bei der Versorgung mit Medikamenten und Schutzausrüstung. Grund dafür waren anfällige Produktions- und Lieferketten, die auf die Corona-Krise nicht vorbereitet waren. Es ist weder überraschend noch unverständlich, dass Forderungen nach mehr Autarkie aufgrund der Erfahrung solch bedrohlicher Schutzlosigkeit erhebliche Dynamik entfalten. Gerade die ökonomischen und politischen Akteure, die sich für Multilateralismus und Konnektivität aussprechen, sollten daher auf die Ergänzung von strategischer Autonomie durch systematische Vorausschau drängen. Das würde die Handlungsfähigkeit Europas in den kommenden Krisen stärken, ohne damit die Kooperationsoffenheit der EU zu schwächen.

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