Forum:Argumente für mehr Solidarität

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Genetische Analysen sehen viele kritisch. Dabei können sie in der Gesellschaft benachteiligten Menschen helfen.

Von Ruben C. Arslan, Philipp Köllinger und Gert G. Wagner

Analysen des menschlichen Genoms belegen immer besser, dass die kognitive Leistungsfähigkeit von Menschen - meist Intelligenz genannt - oder auch die Risikofreude davon abhängt, was wir von unseren Eltern an Genen mitbekommen haben. Sind aber derartige genetische Analysen nicht von Grund auf menschenunwürdig und führen in moralische Abgründe? Nein, lautet unsere Antwort. Genetische Erkenntnisse können sogar zur Menschenwürde beitragen, da sie gute Argumente liefern für Solidarität und für Bestrebungen hin zu mehr Chancengleichheit in unserer Gesellschaft.

Zuerst einmal sei festgehalten, dass die Gene bislang nur wenig erklären; mit immer mehr Daten, die zur Verfügung stehen, wird die Erklärungskraft allerdings zunehmen. In den genetischen Daten von mehr als einer Million Menschen wurden kürzlich zwar 124 Stellen (sozusagen Buchstaben) gefunden, die in Zusammenhang mit Risikobereitschaft stehen. Von der enormen Streuung der menschlichen Risikobereitschaft kann durch jede einzelne Genvariante jedoch nur sehr wenig erklärt werden - maximal 0,02 Prozent der Streuung.

Die kleinen Effekte vieler Stellen im Genom summieren sich jedoch: Immerhin 1,6 Prozent der Streuung in der Risikobereitschaft lassen sich bereits durch die derzeit identifizierten Effekte der gefundenen genetischen Varianten erklären. So konnte die Studie auch Zusammenhänge mit riskantem Verhalten wie Rauchen und Trinken finden. Die Autoren der Studie stellen jedoch ausdrücklich fest, dass die Ergebnisse der Analyse sich nicht dazu eignen, um die Risikobereitschaft eines einzelnen Menschen vorherzusagen - der Prognosefehler wäre viel zu hoch.

Dass das Genom eine Rolle spielt, ahnen die Eltern von mehreren Kindern schon immer, da diese oft sehr unterschiedliche Persönlichkeiten entwickeln, obwohl ihre familiäre und soziale Umgebung ähnlich ist. Die Analyse des Genoms zeigt nun, welche Stellen beziehungsweise Moleküle im Genom dafür verantwortlich sind. Dadurch werden auch bereits länger bekannte Erkenntnisse der sogenannten Verhaltensgenetik bestätigt. Diese Disziplin berechnet zum Beispiel anhand der Ähnlichkeit von Adoptivgeschwistern oder Zwillingen die relative Wichtigkeit von genetischen Unterschieden innerhalb von Familien - und im Vergleich zu Unterschieden in der Erziehung zwischen den Familien. Aber weder diese menschlichen Erfahrungen noch die verschiedenen wissenschaftlichen Methoden können die Kritiker der Genetikanalysen überzeugen.

So bestritt zum Beispiel vor Kurzem der Regensburger Psychologieprofessor Christof Kuhbandner in der Süddeutschen Zeitung, dass Intelligenz in einem nennenswerten Ausmaß erblich sei. Er kritisierte die Aussagekraft der Verhaltensgenetik und prognostizierte, dass molekulargenetische Unterschiede niemals mehr als etwa vier Prozent der Streuung von gemessener Intelligenz statistisch erklären können. In der Tat sind es aber bereits jetzt bis zu zehn Prozent, die sich durch die Betrachtung des Genoms im Detail - Buchstabe für Buchstabe - erklären lassen. Und selbst wenn es wirklich "nur" vier Prozent wären, wäre das eine ganze Menge: Das entspricht dem Effekt eines zusätzlichen Schuljahrs. Und mit immer größeren Datensätzen werden auch immer mehr einzelne Genbuchstaben gefunden werden, deren jeweils winzige Erklärungskraft sich aufsummiert. Forscher schätzen derzeit, dass mit riesengroßen Stichproben von Millionen von Menschen für den IQ mehr als 30 Prozent der Streuung aus den Molekülen des Genoms vorhersagbar sein werden. Auch wenn 30 Prozent übertrieben sein mögen, zeigt die Molekulargenetik, dass angeborene Unterschiede offenkundig nicht ganz unwichtig sind. Das heißt aber natürlich nicht, dass deswegen die Gewinner der genetischen Lotterie dies ungehemmt ausnützen können sollten. Wir werden darauf am Ende zurückkommen.

Wir wollen die Menschen nicht gleichmachen, sondern Nachteile kompensieren

Erziehungswissenschaftler wie Kuhbandner argumentieren auf einer pädagogischen Ebene. Sie sagen, dass es für Schulkinder besser sei, wenn man angeborene Unterschiede leugne. Wir behaupten das Gegenteil. Es wäre unverantwortlich, von einem Kind mit weniger kognitiver Leistungsfähigkeit so viel zu erwarten wie von einem hochbegabten Kind. Wir bezweifeln auch, dass der Vorschlag, den Kuhbandner unterstützt, die Note "nicht bestanden" in "noch nicht bestanden" zu ändern, helfen wird, die Effekte genetischer Unterschiede einzuebnen. Ebenso wird man Menschen durch "Schulung" wohl auch nicht beliebig risikofreudig machen können, um etwa mehr Unternehmer heranzuziehen.

Bei der modernen genetischen Forschung geht es auch nicht nur darum, einzelnen Menschen bessere Therapien bei schweren Krankheiten oder maßgeschneiderte Lehrkonzepte anzubieten. Es geht auch darum, bestimmte gesellschaftliche Strukturen, die immer wieder in Gefahr geraten, zerstört zu werden, besser zu begründen und abzusichern.

Relevante genetische Unterschiede bedeuten keineswegs, dass daraus ein "Survival of the Fittest" als normative Leitlinie für das menschliche Zusammenleben folgen muss. Ganz im Gegenteil! Man kann auch argumentieren, dass Vor- und Nachteile, die einem Menschen durch seine "genetische Ausstattung" entstehen, von einer gerechten Gesellschaft zumindest teilweise kompensiert werden sollten, da ja niemand etwas für seine Gene kann.

In der Tat orientiert sich unsere Steuer- und Sozialpolitik an diesen Überlegungen - in Deutschland und in vielen Ländern in der Welt. Zudem: Vielfältigkeit der Menschen ist ein Wert an sich. Genetische Vielfalt erhöht die Anpassungsfähigkeit einer Art, und Gene, die heutzutage mit Nachteilen verbunden sind, könnten sich in Zukunft für die Menschheit als wertvoll erweisen. Wir wollen die Menschen nicht gleichmachen, sondern wir wollen Nachteile aller Art, mit denen wir ohne eigene Schuld durch das Leben gehen müssen, so weit es vernünftig ist, kompensieren.

Ein Wirtschaftsphilosoph, John E. Roemer, hat diesen Standpunkt mit seiner Theorie zur Chancengleichheit auf den Punkt gebracht: Individuelle Anstrengung sollte sich lohnen, aber Unterschiede im Einkommen, die sich aufgrund der Chancen ergeben, die einem die Eltern mitgaben (sowohl genetisch als auch sozial), sollten durch Steuern und Transfers ausgeglichen werden. Eine progressive Besteuerung hoher Einkommen einerseits und andererseits Transfers an Menschen, die Probleme haben, ein ordentliches Einkommen zu erzielen, machen genau dieses.

Mit anderen Worten: Da eine günstige genetische Ausstattung im Wortsinne un-verdient ist, können die Analysen, die die Bedeutung der Gene für das menschliche Leben zeigen, die Argumente für einen starken Steuer- und Sozialstaat stärken.

© SZ vom 21.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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