Aktualitätsdebatte um Formel 1:Geisterfahrer in die Vergangenheit

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Formel 1 galt zu Beginn des 20. Jahrhunderts als kulturelle Avantgarde - ist der Rennsport heute noch zu retten? (Foto: David Davies/dpa)
  • Die Zuschauerzahlen der Formel 1 gehen rasant zurück.
  • Gründe dafür sind vermutlich - neben sportlicher Eintönigkeit und dem Einflussverlust des Fernsehens - auch die aktuellen Debatten um Klimaschutz, Fahrverbote und "Me Too".
  • Die Faszination der Raserei, die unter Michael Schumacher ihren Höhepunkt fand, könnte nun kippen. Konkurrenz kommt aus der eigenen Domäne: die Formel E.

Von René Hofmann

Es geht bergab mit der Formel 1. Und das rasant. Zumindest deuten das die Zahlen an. Zahlen sind wichtig im Motorsport. Die Rundenzeiten definieren, wer den besten Startplatz ergattert und wer das Rennen gewinnt. Am Ende der Saison entscheidet die Punktezahl, wer als Weltmeister gekürt wird. Und die Beliebtheit des ganzen Spektakels lässt sich an den Zuschauerzahlen ablesen. Nach zehn von 21 Rennen in dieser Saison und vor dem Großen Preis von Deutschland an diesem Wochenende auf dem Hockenheimring sieht es da mau aus - zumindest hierzulande. Im Durchschnitt knapp 3,9 Millionen Menschen verfolgten bei jedem Grand Prix die Live-Sendung von RTL. Der Privatsender überträgt die Rennen seit 1992. Weniger als vier Millionen Zuseher pro Start - das gab es zuletzt 1994, dem Jahr, in dem Michael Schumacher zu seinem ersten Titel fuhr. Am größten war das Interesse 2001, bei Schumachers erstem WM-Triumph für Ferrari. Damals notierte RTL Traumwerte: Im Schnitt 10,44 Millionen Zuschauer, was einen Marktanteil von mehr als 55 Prozent ergab.

Für den Rückgang gibt es einige Gründe: die sportliche Eintönigkeit (bis auf ein Rennen wurden in diesem Jahr alle von den Mercedes-Lenkern Lewis Hamilton und Valtteri Bottas gewonnen), der Bedeutungsverlust des Fernsehens (viele Fans informieren sich inzwischen über das Internet oder soziale Netzwerke), das Fehlen einer Ausnahmefigur wie Schumacher. Aber vielleicht erklärt auch all das zusammengenommen den Trend nicht ganz. Vielleicht gibt es noch einen größeren Grund, einen ganz grundsätzlichen. Womöglich ist die Formel 1 einfach out, unzeitgemäß, überholt. Selbst die begeistertsten Petrolheads beschleichen inzwischen solche Gedanken.

Zum Formel-1-Start veröffentlichte Dieter Zetsche, damals noch der Vorstandsvorsitzende der Daimler AG, im vergangenen Jahr in den sozialen Medien einen offenen Brief. Zetsche schrieb: "Ich werde oft gefragt, ob die Formel 1 heute noch relevant, noch zeitgemäß ist. Manche halten sie für ein Relikt der Vergangenheit angesichts von Klimawandel, zunehmender Verbreitung elektrischer Antriebe und selbstfahrenden Autos als Zukunft der Mobilität."

Es gibt zehn Rennställe, in nur einem steht eine Frau an der Spitze

"Ein Relikt der Vergangenheit- ein schlimmeres Lable kann es für einen Sport fast nicht geben. Nun war der Motorsport nie unumstritten. Der Ärger begann schon beim ersten Rennen überhaupt. Als am 22. Juli 1894, also vor ziemlich genau 125 Jahren, Pierre Giffard, der Chef der Zeitschrift Petit Journal, "pferdelose" Wagen für eine Wettfahrt von Paris nach Rouen einlud, gab es anschließend einen schrecklichen Streit, wer als Sieger zu küren wäre. Graf Albert de Dion, der das Ziel nach sechs Stunden und 48 Minuten als Erster erreichte, saß in einem dampfgetriebenen Gefährt, das so groß war, dass ihm die Regelhüter den Triumph zunächst verwehrten - mit dem Hinweis, die Vorschriften hätten "einfach zu handhabende Zweisitzer" vorgesehen. Weil das Publikum den Grafen aber so frenetisch feierte, wurden die Regeln angepasst. Ab 1895 lauteten die schlicht: Der Schnellste gewinnt. Seitdem liefen die Rennen so. Die spannende Frage nun aber ist: Wie lange können sie so noch weiterlaufen?

Ressourcen verbrennen, nur um zu ermitteln, wer am schnellsten ist. Genauer gesagt: Wer der Schnellste ist. Den Frauen bleiben bei dem Wettstreit immer noch meist nur Nebenrollen. Im Management der Rennserie bestimmen ausschließlich Männer. Es gibt zehn Rennställe, in nur einem steht eine Frau an der Spitze: bei Williams - Claire Williams, die Tochter des Firmengründers Frank Williams, ist stellvertretende Teamchefin. Mehr als ein Vierteljahrhundert ist es inzwischen her, dass zum letzten Mal eine Frau an einem Grand Prix teilnahm: Die Italienerin Giovanna Amati, 1992; bei drei Gelegenheiten kam sie nicht über die Vor-Qualifikation hinaus.

Wenn der Zeitgeist eine Autobahn ist, dann ist die Formel 1 auf ihr als Geisterfahrer unterwegs. Bestes Beispiel: Das alberne Hin und Her um die sogenannten Grid-Girls. Dass es nicht mehr unbedingt auf der Höhe der Zeit ist, Frauen in Kleidern, die oft mehr enthüllen als sie verdecken, den Protagonisten mit einer an eine Art Pole-Dance-Stange montierten Nummer den Startplatz anweisen zu lassen, wurde im Zuge der "Mee Too"-Debatte auch in der Formel 1 vielen klar. Schließlich bekam die es aber wieder einmal nicht hin, auch nur den kleinsten Schritt in die richtige Richtung zu tun. Kaum hatten die Rechteinhaber vom US-Medienunternehmen Liberty Media das Aus für die Nummernrevue verkündet, opponierten die Veranstalter der Rennen in Russland und in Monaco: Sie wollten unbedingt weiter Frauen ausstellen.

Aus heutiger Sicht wirkt es skurril, aber es gab tatsächlich eine Zeit, in der galt der Rennsport als kulturelle Avantgarde. 1909 - die Formel 1 gab es damals noch lange nicht als Weltmeisterschaft - dichtete der Italiener Filippo Tommaso Marinetti im Gründungsmanifest des Futurismus: "Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen, ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake." Kartätschen ist Militärjargon und im gleichen Manifest steht auch: "Wir wollen den Krieg verherrlichen - diese einzige Hygiene der Welt." Man sollte das Ganze also nicht zu hoch hängen. Eines aber dokumentiert der Nike-von-Samothrake-Vergleich: Die Raserei wurde damals tatsächlich als Sinnbild für eine beschleunigte, bessere Zukunft gesehen.

Wofür sie heute noch steht? Dieter Zetsche hat die Frage, ob die Formel 1 überhaupt noch zeitgemäß ist, damals in den sozialen Medien rhetorisch gestellt. Sie war ihm eine Vorlage, um drei Argumente auszurollen. Erstens: Die Formel 1 bediene "einige der elementarsten menschlichen Emotionen: Leidenschaft (für das Lieblingsteam oder den Lieblingsfahrer), Aversion (gegen andere Teams), Schmerz (über ein verlorenes Rennen) oder Euphorie (wenn es gut läuft)". Außerdem lasse sich auf der Rennstrecke "viel fürs Business lernen": Weil die Zahl der Ingenieure und Mechaniker begrenzt ist, die bei einem Rennen an der Strecke erlaubt sind, müsse jeder Verantwortung übernehmen - und jeder könne, manchmal innerhalb von Tausendstelsekunden, über Sieg oder Niederlage entscheiden. Und Drittens sei die Serie ein "erstklassiges Labor für Forschung und Entwicklung", ein "Inkubator für Technologie".

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Ja, Zetsche hat das wirklich so genannt. Dass er bei anderer Gelegenheit auch schon ganz anderes gesagt hatte, war in dem Moment vergessen. In einem Sonderheft der Zeitschrift Stern zum 60. Formel-1-Geburtstag im Jahr 2010 hatte Zetsche zu den unmittelbaren Abstrahleffekten auf Serienautos noch eingeräumt: "Wenn man es ganz nüchtern sieht, dann war da substanziell nie so viel dran." Gestern so und heute so: Derlei Dialektik wurde auch in anderen Konzernen oft gepflegt. Bei BMW, bei Toyota. Nur so lange sie mitspielen, preisen alle Unternehmen die Vorzüge des Wettbewerbs.

Die Formel 1 steht quer zu vielen gesellschaftlichen Strömungen

Eine Bestandsgarantie ist der Status quo in der Formel 1 nie. Dass aktuell neben Mercedes auch Ferrari, Renault, Red Bull und Honda in der Serie engagiert sind, bedeutet für die Zukunft wenig. Ab 2021 gelten neue Regeln, über die aktuell heftig gerungen wird. Glückt es nicht, der ganzen Show einen neuen, frischen Anstrich zu verpassen, droht ein Exodus. Denn Gewinne können in dem sündteuren Sport nur die einfahren, die vorausjagen. Alle anderen müssen den Prestigegewinn einkalkulieren, damit das Engagement sich rechnet. Seit 2014 rollen die Boliden zwar mit Hybrid-Technik an den Sechszylinder-Turbomotoren. Aber das ist eher Fluch als Segen: Die Technologie schafft es nur in die Schlagzeilen, wenn einer über sie schimpft, weil sie ihn im Stich lässt.

Fahrverbots-Diskussionen und Fridays-for-Future-Demonstrationen: Die Formel 1 steht quer zu vielen gesellschaftlichen Strömungen. Ganz neu ist das allerdings nicht. Der Motorsport ließ sich nie rational begründen. Die Geschichte, er sei nötig, um die Entwicklung voranzutreiben, war immer nur eine Geschichte. Die Faszination der Rennerei - das war und das ist das Irrationale, das Wahnwitzige. Für die Fahrer ist es das, aber eben auch für viele Zuschauer.

Die Formel-1-WM wurde 1950 gestartet. Damals wurde der Schnellste nicht nur auf abgesperrten Strecken ermittelt, sondern mitunter auch auf normalen Straßen, bei der berüchtigten Mille Miglia durch Italien etwa. 1957 verunglückte dabei der Spanier Alfonso de Portago. Zwischen Mantua und Brescia tötete er mit seinem Ferrari sich, seinen Beifahrer und zehn Zuschauer - fünf von ihnen Kinder. Nach der Tragödie meldete sich Papst Pius XII. zu Wort: "Nicht töten ist ein universelles Gebot. Kein sportlicher Ehrgeiz, kein technisches Problem, kein Reklameinteresse rechtfertigt ein so offenkundig sicheres Opfer von Menschenleben."

Die Um-die-Wette-Fahrerei ging trotzdem weiter. Und trotz vieler tödlicher Unfälle in den 1950er-, 1960er- und 1970er- Jahren nahm gerade die Popularität der Formel 1 sprunghaft zu. Die blutigen Jahre werden in Rückschauen gern zur wilden, spannenden Zeit verklärt. Aber das ist ein Mythos. Die Fanbasis wuchs auch danach massiv, als die Sicherheitsvorkehrungen an den Strecken und den Autos deutlich besser wurden und es deutlich weniger Unfälle gab. Weil die Rennen live zu sehen waren. Weil es immer mehr Rennen gab. Und weil von diesen immer mehr in neuen Märkten ausgetragen wurden. Nun aber könnte der Kipppunkt erreicht sein. Nicht nur, weil weltweit Schüler für den Klimaschutz auf die Straße gehen und selbst in Deutschland, wo das Automobil einst erfunden wurde, Tempolimits nicht mehr prinzipiell als Tabu gelten. Nein, vor allem, weil der Formel 1 in ihrer eigenen Domäne eine ernstzunehmende Konkurrenz erwächst: die Formel E - eine Rennserie mit rein elektrisch angetriebenen Einsitzern. Denn die zeigt: Es lässt sich auch mit reinem Gewissen unvernünftig sein.

© SZ vom 27.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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