Süddeutsche Zeitung

Flugzeugabsturz:Ein Absturz - und viele Fragen

Das verunglückte Flugzeug von Lion Air kam vom US-Hersteller Boeing. Unklar ist, ob das Unternehmen die Schuld trägt. Fest steht: Boeing hat ein großes Problem mit der Kommunikation.

Von Jens Flottau, Frankfurt

Bis nach einem Flugzeugabsturz die wirklich wichtigen Fragen beantwortet werden können, dauert es in der Regel Jahre. Manchmal, wie im Fall der verschwundenen Boeing 777 der Malaysia Airlines, drohen die Experten an der Aufgabe permanent sogar zu scheitern. Sie können dann aus einem Unfall nicht die wichtigen Lehren ziehen, die künftige Flüge sicherer machen. Ob der Durchbruch bei der Analyse des Absturzes der Boeing 737-8 der indonesischen Lion Air gelingt, hängt im Wesentlichen davon ab, wann der Cockpit-Stimmenrekorder gefunden und ausgewertet worden ist. Noch wird danach gesucht.

Der Hersteller Boeing hat in der Sache bisher kein gutes Bild abgeben, er hat ein großes Problem mit der Kommunikation. In der Öffentlichkeit entsteht so der Verdacht, durch eigene Unterlassungen irgendwie zu dem Absturz beigetragen zu haben. Womöglich allerdings weitgehend zu Unrecht.

Die Lion-Air-Boeing war am 29. Oktober 13 Minuten nach dem Start vor Jakarta ins Meer gestürzt. Alle Insassen waren dabei ums Leben gekommen. Bei vorherigen Flügen gab es Probleme mit unzuverlässigen Daten zur Geschwindigkeit und Fluglage, die womöglich von defekten Sensoren übermittelt wurden. Wenige Tage nach dem Absturz erinnerte Boeing die Airlines in einer Memo daran, dass es bei dem neuen Jet ein Maneuvering Characteristics Augmentation System (MCAS) gibt, das das Höhenruder automatisch verstellen kann, wenn die Piloten ohne Autopilot fliegen. Boeing wies auf die bestehenden Verfahren hin, denen zufolge bei einer Fehlfunktion das System mittels zweier Schalter auf der Konsole zwischen den Piloten abgeschaltet werden kann. Ob das System tatsächlich die Flugzeugnase automatisch nach unten gesenkt hat und die Maschine dadurch außer Kontrolle geraten ist, ist allerdings noch unklar.

Wussten die Piloten nicht, wie man das automatische System abschaltet?

MCAS steht nun auch deswegen im Mittelpunkt der Debatte, weil mehrere große Fluggesellschaften in den USA, unter anderem American und Southwest, öffentlich machten, ihnen und ihren Piloten sei das neue System gar nicht bekannt. Andere Airlines hingegen betonten, sie hätten von der technischen Neuerung bei der neuesten Generation der 737 gewusst. Und Boeing-Chef Dennis Muilenburg betonte in einem Memo an die Mitarbeiter, Boeing habe Informationen über MCAS absichtlich zurückgehalten, als "einfach falsch." Die einschlägigen Funktionen seien im Handbuch nachzulesen. Ansonsten will sich aber Boeing nicht öffentlich äußern, denn die Unfalluntersuchungen laufen noch.

Als das Unternehmen dann auch noch eine Telefonkonferenz mit 737-Betreibern zum Thema kurzfristig absagte, war das Chaos perfekt. Die Boeing-Aktie verlor bis zu vier Prozent ihres Wertes. Die bislang womöglich entscheidende Wortmeldung zur Diskussion stammt von den United-Airlines-Piloten. MCAS sei zwar neu und auch im ursprünglichen Training, in dem die Unterschiede zu den älteren 737-Versionen erläutert werden, nicht aufgeführt. Dennoch wisse man, wie man mit einem Systemfehler während des Fluges umgehen müsse: ein Blick in das sogenannte Quick Reference Handbook (QRH) genüge und anschließend "ein Umlegen der (zwei) Schalter."

Damit sprechen die United-Piloten indirekt die Kernfrage an: Wenn MCAS bei dem Unglücksflug tatsächlich fehlerhaft angesprungen ist, warum wussten die Piloten nicht, wie man es abschaltet? Bestätigt sich dieser Verlauf, dann würde der Flug JT610 in eine Reihe von Unfällen passen, bei denen letztlich die Piloten vom Grad der Automatisierung und der Komplexität der Systeme überfordert waren.

Inwieweit die Qualifikation der Piloten eine Rolle spielte, ist noch unklar

Die amerikanische Luftfahrtbehörde Federal Aviation Administration (FAA) warnte schon 2013 in einer Studie vor besorgniserregenden Trends: Einerseits würden Cockpitsysteme immer komplexer. Wenn dann etwas nicht wie geplant laufe, seien die Vorgänge für die Piloten schwieriger zu verstehen, sie müssten also besser geschult werden. Zugleich aber drohen die Fähigkeiten, Flugzeuge wirklich sicher manuell zu fliegen, bei vielen Piloten in Vergessenheit zu geraten, weil der Computer so viel übernimmt. Auch dies müsse beim Training wieder stärker berücksichtigt werden.

Inwieweit die Qualifikation der Piloten beim Lion-Air-Absturz eine Rolle gespielt hat, ist noch unklar. Immer wieder sind jedoch Hinweise darauf an die Öffentlichkeit gelangt, dass die stark wachsende Billigfluggesellschaft Nachholbedarf haben könnte, ein tiefes Verständnis für Sicherheits im Unternehmen zu verankern. Vor wenigen Wochen haben sich einige Lion-Air-Piloten bei einer anderen Fluggesellschaft um Jobs beworben. Sie wurden alle abgelehnt, wie es in der Branche hieß. Sie hätten nach Einschätzung der Gutachter beim Training ganz von vorne beginnen müssen.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels haben wir fälschlicherweise von der philippinischen Hauptstadt Manila als Absturzort der verunglückten Maschine geschrieben. Richtig ist, dass der Flug vor der indonesischen Hauptstadt Jakarta ins Meer gestürzt war.

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Quelle:
SZ vom 22.11.2018/jps/cat
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