Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge in Serbien:Ein Europäer entdeckt die Hilfe

Lesezeit: 1 min

Michael Roths Leben hat sich verändert, seit er Flüchtlingen hilft.

Von Nadia Pantel

Wenn Michal Roth darüber nachdenkt, wie ihn das vergangene halbe Jahr verändert hat, fällt ihm als Erstes ein, was ihm weniger wichtig geworden ist: die Arbeit. Der 29-jährige Tscheche ist in einer Werbeagentur für digitales Marketing zuständig. Der Job macht ihm Spaß, aber "Probleme", die seine Kollegen sehen, kann er nicht mehr wirklich als solche empfinden. Der Ort, an dem Roth ein Anderer wurde, heißt Šid. Es ist ein unspektakuläres Städtchen an der serbischen Grenze, nur ein paar Kilometer von Kroatien entfernt. Seit Ungarn sich zur No-Go-Area für Flüchtende erklärte, reisen täglich Tausende durch Šid. Diese Flüchtenden kannte Roth nur aus Internet und Fernsehen. Bis er selbst nach Šid fuhr, dort Essen und Kleidung austeilte und Kinder und Alte in seinem Auto zum Grenzübergang mitnahm. "Die ersten Tage dort haben mich überwältigt. Ich hatte das Gefühl, dass jeder dieser Menschen auch mein Cousin, mein Kollege, meine Großmutter sein könnte."

Der Werber Roth ist kein politischer Aktivist. Als er zum ersten Mal an die Grenze fuhr, war er sich noch nicht einmal sicher, ob er überhaupt helfen wollte. Er wollte nur verstehen, was dort eigentlich passiert. Er wollte die Widersprüche in seinem Kopf auflösen. Auf der einen Seite las er auf der Homepage von Amnesty International darüber, wie gefährlich und unsicher die Flucht ist. Auf der anderen Seite berichteten tschechische Medien darüber, dass Syrer ihre Frauen schlagen, dass Flüchtlinge den Einheimischen ihre Jobs wegnehmen. Es schien alles fürchterlich kompliziert. Und im Chaos der improvisierten Flüchtlingslager entlang der sogenannten Balkanroute auch wieder einfach. "Wenn ich verhindern kann, dass jemand leidet, hungert oder sich verletzt, dann werde ich das tun", sagt Roth. Im Herbst nahm er sich zehn Tage Urlaub, um nach Lesbos zu fahren. Mit 16 anderen Tschechen mietete er ein Haus, organisierte Autos und zwei Boote und bat den örtlichen Behörden Hilfe an. "Für uns bedeutet unser Engagement auch, dass wir zu Europa gehören. Wir wollen zeigen, dass nicht alle Tschechen Angst vor Fremden haben", sagt Roth.

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SZ vom 02.01.2016
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