Fleischfabrik Tönnies:Neuer Anstrich, alte Schweinereien

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Tönnies-Stammwerk in Rheda-Wiedenbrück. (Foto: Tönnies/dpa)

Wenn ein tödliches Virus auf nackte Ausbeutung trifft: Im Sommer stand die Fleischfabrik Tönnies am Pranger und mit ihr eine ganze Industrie. Nun soll alles besser werden, sauberer, fairer. Lässt das System das überhaupt zu?

Von Lina Verschwele und Christian Wernicke, Rheda-Wiedenbrück

Die schöne neue Welt von Tönnies, sie findet sich in der Barbarastraße 5, im Innern eines weißen Einfamilienhauses. Alles ist aufgeräumt in den vier Schlafzimmern, das Laminat gefegt, die Fliesen im Flur gewischt, hinter der Klotür steht noch der Eimer mit nassem Feudel. Die Betten sind frisch bezogen, in der Küche hat jemand den alten Kühlschrank mit drei Orangen und zwei Packungen Keksen aufgehübscht. Nebenan im Gemeinschaftsraum weihnachtet es: Auf der Fensterbank blinkt ein kleiner Tannenbaum, den Esstisch ziert eine rot-goldene Plastikdecke. Auf dem Bild an der Wand röhrt ein Hirsch.

Sieben Menschen sind hier eingezogen. Alle kommen aus Rumänien, alle arbeiten in Rheda bei Tönnies, in Europas größter Fleischfabrik. Raluca A. (21) verpackt Schnitzel und Schinken, ihr Mann Nicolae (27) fährt den Gabelstapler, für 9,35 Euro die Stunde, Mindestlohn eben. Sie seien "zufrieden", sagt Raluca, alles sei "jetzt viel besser" als in der feuchten Behausung, die ihnen bisher ein rumänischer Subunternehmer von Tönnies zugewiesen hatte. 190 Euro Warmmiete, Strom inklusive, kostet die neue Bleibe. Pro Kopf. Nicolae lehnt im Türrahmen, auf dem dunklen T-Shirt steht sein Motto: "Just do it". Er grinst und nickt kurz, als seine Frau sagt, sie könne sich inzwischen sogar vorstellen, "dass wir hier bleiben in Deutschland".

André Vielstädte hat in diesem Moment gelächelt. So etwas hört er gern, der Kommunikationschef von Tönnies. Draußen vor der Tür wird Vielstädte das Haus in der Barbarastraße später als eine Art Schaufenster deuten, das Tönnies' helle Zukunft zeige. Überall im Kreis Gütersloh kauft eine Tochterfirma des Konzerns gerade Häuser auf, um künftig Wohnungen zu vermieten: "Wir kümmern uns jetzt selbst um die Unterkünfte", sagt Vielstädte, das sei "Bestandssicherung". Tönnies wolle so Mitarbeiter ans Unternehmen binden.

Die Barbarastraße in Rheda, für den Konzernsprecher von Tönnies ist Haus Nummer 5 das Schaufenster für die Zukunft des Unternehmens. (Foto: Christian Wernicke)

Die Fleischbranche erwartet im neuen Jahr ein "Kulturschock"

Nur, freiwillig steuert Clemens Tönnies, der Fleischbaron, nicht um. Ab 1. Januar 2021 treten für die Schlacht- und Wurstbranche in Deutschland fundamental neue Regeln in Kraft: Tausende von Werkvertragsarbeitern, die bisher von oft obskuren Subunternehmern aus Rumänien, Polen oder Bulgarien angeheuert, in Sammelunterkünfte gepfercht und in deutsche Schlachthöfe geschickt wurden, müssen künftig direkt von der Fleischindustrie angestellt werden. Das neue Arbeitsschutzkontrollgesetz, gerade vorige Woche von Bundestag und Bundesrat beschlossen, schreibt zudem vor, dass Tönnies & Co. nunmehr verantwortlich sind für die Zustände in den Gemeinschaftsunterkünften ihrer Mitarbeiter.

"Da kommt auf die Branche ein Kulturschock zu", prophezeit Karl-Josef Laumann (CDU), der NRW-Arbeitsminister. Laumann ist ein Verfechter der Reform, seit Jahren ärgerten ihn die Zustände bei der Billigfleisch-Produktion. "Das war die organisierte Verantwortungslosigkeit", schimpft er. Allein im Tönnies-Stammwerk in Rheda standen bisher mehr als die Hälfte aller Mitarbeiter (3500 von 6500) nicht bei Tönnies unter Vertrag, sondern bei einem Subunternehmer. Versuche, in dieser branchenweiten Schattenwirtschaft Löhne, Arbeitszeiten oder Wuchermieten zu kontrollieren, blieben meist zwecklos. "Bisher war das, als griffen Sie in Götterspeise", sagt Laumann der SZ, "man bekam nichts zu fassen."

Dann kam Corona. Das Virus stürzte den Fleischkonzern Mitte Juni in seine tiefste Krise. 2117 Mitarbeiter und deren Angehörige infizierten sich. "Das Vertrauen in die Firma Tönnies ist auf null", urteilte damals ein Mitglied im Krisenstab des Kreises Gütersloh - das Unternehmen wusste nicht mal, wo seine covidgefährdeten Schlachter oder Zerleger wohnten. 15 000 Menschen gingen in Quarantäne, 640 000 Bürger im Kreis Gütersloh und im benachbarten Kreis Warendorf mussten in den "Tönnies-Lockdown". Clemens Tönnies, bis dato der mächtigste Fleischer der Republik, stand am 20. Juni 2020 hilflos vor seiner klotzigen Konzernzentrale und versprach: "Wir werden die Branche verändern. Dafür steh' ich gerade."

Die Fleischindustrie stand am Pranger, das Wort "Schweine-System" gewann eine neue Bedeutung. Bis Ende Oktober hatten sich laut eines Gutachtens der Bundesregierung Werkvertragsarbeiter rund achtmal häufiger mit Corona infiziert als die übrige Bevölkerung.

Die Politik habe "die Situation ausgenutzt", klagt der Konzern

Wirklich verdaut haben sie bei Tönnies den Corona-Schock bis heute nicht. Die Politik habe "die Situation ausgenutzt", um das neue Kontrollgesetz durchzuboxen, beklagt Konzernsprecher Vielstädte: Der Corona-Ausbruch habe "nichts mit Werkverträgen, Wohn- oder Arbeitsbedingungen zu tun". Tönnies habe in seinen Kühlhäusern im Hochsommer nur erlitten, "was Deutschland nun in diesem Winter erlebt". Dass eben Aerosole in kalter, feuchter Luft das Virus schneller verbreiten. Vielstädte breitet beide Arme aus, als er aufzählt, wer alles ins Schlachthaus kommt: Veterinäre, das Kreisgesundheitsamt, die Arbeitsschützer der Bezirksregierung, der städtische Ordnungsdienst. "Es gibt aktuell keinen intensiver kontrollierten Betrieb als uns."

Nach Reue, nach Umkehr klingt das nicht.

Armin Wiese, der regionale Geschäftsführer der Gewerkschaft Nahrung-Genussmittel-Gaststätten (NGG), erkennt zwar an, dass Tönnies seit Oktober über 3000 bisherige Werkvertragsarbeiter angestellt hat. Die genauen Konditionen blieben jedoch oft undurchsichtig, "und ob für die Kollegen mehr herausspringt, wissen wir frühestens, wenn Mitte Februar die neuen Lohnabrechnungen kommen".

Die Arbeiter selbst bleiben skeptisch. Sorin Matei (Name geändert), der bei Tönnies in der Fleischzerlegung arbeitet, berichtet von hohem Akkorddruck. Das Werk hat im Dezember wieder seine frühere Schlachtkapazität erreicht: bis zu 25 000 Schweine am Tag. Seit der Corona-Zwangspause im Juni stauen sich die Tiere in den Stallungen, deutschlandweit wurden 2020 rund 1,5 Millionen Schweine weniger als im Vorjahr geschlachtet. Matei hat zwar 300 Euro Corona-Bonus erhalten, sonst habe sich finanziell nichts verändert. Im Video-Chat zeigt er seine Abrechnungen in die Kamera: Netto rund 6,50 Euro die Stunde, und trotz 200 Arbeitsstunden im Monat kommt er selten weit über 1000 Euro. Vom neuen Vertrag mit Tönnies erhofft er sich mehr freie Tage, auch Urlaubsgeld - doch bis vorige Woche hatte er noch keinen.

Ähnlich klingt der Frust, den rumänische Arbeiter über Facebook aus Rheda miteinander teilen. Viele warten auf neue Verträge - aber wer schon angestellt wurde von Tönnies, ist enttäuscht: Selten gibt es mehr Geld, es bleibt beim Mindestlohn (9,35 Euro) oder maximal zehn Euro die Stunde. "Keinen Cent extra werden wir bekommen", schreibt einer. "Diebstahl am hellichten Tag" schimpft ein anderer. Viele fürchten, dass die Subunternehmer weiter im Geschäft bleiben: Als Aufseher im Werk, als Hausmeister in der Unterkunft, als Anwerber daheim: "Was kann man schon tun, um die Mafia der Schlachthöfe zu zerstören?", fragt ein Mann. Ein Kollege antwortet, er hoffe auf Klarheit und mehr Ruhe: "Im Moment sind wir wie eine Herde mit sehr vielen Hirten."

Immerhin, Berlins neue Paragraphen zwingen Tönnies zum Umbau. Schon jetzt, noch ehe das Gesetz in Kraft tritt. Das schmucke Fitness-Zentrum im dritten Stock des Verwaltungstrakts zum Beispiel wich neuen Schreibtischen: Die Personalabteilung bekam 20 neue Stellen - für die Bearbeitung der Papiere der 3500 in Rheda nun erstmal direkt angestellten Tönnies-Arbeiter.

Verls Bürgermeister ließ im Sommer einen Zaun um die Unterkünfte im Zollhausweg bauen, 500 Tönnies-Arbeiter und 350 andere Bewohner mussten in Quarantäne. (Foto: David Inderlied/dpa)

Möbel verrücken, Wände neu streichen - das macht Tönnies auch draußen. Der Konzern muss 2000 Schlafplätze für jene 30 Prozent seiner Malocher finden, die nur für sechs Wochen oder für ein paar Monate bleiben wollen. Herhalten müssen dafür auch jene vierstöckigen Wohnkästen am Zollhausweg in Verl, die seit Juni jeder kennt in der Region: Verls Bürgermeister ließ damals einen Zaun um die Unterkünfte bauen und zwang 500 Tönnies-Arbeiter sowie 350 andere Bewohner kollektiv in Quarantäne. Bisher herrschten hier die alten Subunternehmer, von denen hat Tönnies jetzt vier Häuser mit jeweils acht Wohnungen gekauft.

In Haus Nummer 17 fehlen die Gardinen, durchs Fenster ist eine Malerleiter zu erkennen. Tönnies lässt gerade renovieren, die anderen drei Häuser kommen 2021 dran. Immerhin, das Elend ist nun transparenter: Über den schäbigen Briefkästen hängen neuerdings säuberlich getippte Bewohnerlisten, sechs bis acht Namen für drei bis vier Zimmer.

"Nichtansässigen", so warnt ein Schild im Hausflur, sei der Zugang "strengstens untersagt". Alarmstufe rot, Verl meldet am Mittwoch eine 7-Tage-Inzidenz von 381. Bis heute leben die Menschen in den Wohnungen wie früher, so wie bei einem SZ-Besuch im Oktober: in Enge. Zwei schmale Einzelbetten je Zimmer, ein Bad muss reichen für acht Menschen. In der Küche drängen sich drei Männer um einen kleinen Tisch. Zigarettenrauch hängt in der Luft, der Boden im Flur ist ausgetreten.

Wie es zuletzt zuging am Zollhausweg, darüber sprechen jene offener, die Tönnies inzwischen verlassen haben. Alin D. hatte hier über einen Subunternehmer sein Bett gemietet, für 250 Euro im Monat. Bis zur Krise im Juni hätten sich zehn Personen die Bude geteilt, danach sieben bis acht. Doch, es verändere sich etwas: Eines Morgens seien Leute zum Streichen gekommen. Danach habe Personal von Tönnies die Wohnung inspiziert, während die Arbeiter nicht zuhause waren. D. wollte nicht abwarten, ob das neue Gesetz genug verändert. Im Dezember wechselte er in die Baubranche.

Wer eines der Tönnies-Wohnhäuser im Zollhausweg in Verl betritt, steht im Treppenhaus diesem Warnplakat gegenüber. (Foto: Christian Wernicke)

Tönnies schneidet sich da ins eigene Fleisch: Beim Küchenhersteller, im neuen Amazon-Center oder im Warenlager eines Discounters verdienen angelernte Arbeiter schnell mehr, mit weniger Stress. Viele Rumänen, Polen oder Bulgaren, die länger bleiben, wechseln irgendwann. "Die brutalen Bedingungen in der Branche machen es Tönnies schwer, die Leute dauerhaft zu halten", weiß Volker Brüggenjürgen, der Caritas-Chef im Kreis Gütersloh: "Bisher zählten in diesem System nur die Schweine - jetzt zählen auch Menschen."

Hält Clemens Tönnies Wort? Im Juni, als das Virus im Werk tobte, versprach der Unternehmer, er werde "die Kosten für einen freiwilligen, flächendeckenden Corona-Test im Kreis Gütersloh" übernehmen. Bisher, so bestätigt der Landrat, bezahlte Tönnies - nichts. Man verhandelt.

Das neue Gesetz, lobt Volker Brüggenjürgen, erzwinge "eine Zeiten-Wende" im Konzern. Dennoch, er bleibt vorsichtig: "Nach zwei Jahrzehnten extremer Ausbeutung fällt es mir schwer, an eine schnelle Besserung zu glauben." Nötig seien nun strenge Kontrollen. Das Vertrauen, dass Tönnies schöne neue Welt aus der Barbarastraße nun überall von allein heraufzieht - das hat er nicht.

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