Scheinbar unverwüstlich ragen die beiden Türme der Deutschen Bank in den Sommerhimmel über Frankfurt. In der blauen Glasfassade spiegelt sich ein Kran von der gegenüberliegenden Baustelle. Mitarbeiter gehen ein und aus, in der Hand Brötchentüten oder Kaffeebecher. Mit einer Höhe von 155 Metern gilt die Konzernzentrale von Deutschlands größter Bank bereits als Wolkenkratzer.
In Aschheim nahe München ragt nichts in die Höhe. Die Zentrale des Finanztechnologie-Unternehmens Wirecard geht eher in die Breite. Es ist ein U-förmiger Bau umgeben von Budgethotels und einem Industriegebiet. Und doch ist das, was hinter diesen Mauern erdacht und umgesetzt wird, jetzt mehr wert als alles, was die Deutsche Bank in ihren mächtigen Zwillingstürmen unternimmt - zumindest an der Börse.
In dieser Woche kosteten sämtliche Aktien von Wirecard erstmals mehr als die der Deutschen Bank. Mit einem Börsenwert von 20,8 Milliarden Euro übertraf das bayerische Unternehmen das Frankfurter Geldhaus, das für 150 Jahre deutscher Wirtschaftsgeschichte steht, zeitweise um etwa 300 Millionen Euro. Seit Jahresanfang sind die Aktien von Wirecard um 80 Prozent gestiegen, während die der Deutschen Bank 35 Prozent verloren. Jetzt ist da ein Vorsprung, den Wirecard zwar schnell verlieren kann wegen des Auf und Ab an den Märkten, der aber Symbolwert hat: Er steht für den Aufstieg der Tech-Firmen und den Abstieg des Establishments - nicht nur in der IT- oder Dienstleistungsbranche, sondern auch in der Finanzwelt.
Manche dieser Angreifer verfolgen ihre Ziele offensiv, wie die Berliner Digitalbank N 26, die man auch von Werbeplakaten her kennt. Andere wie Wirecard wachsen nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit. Genauso wie das niederländische Start-up Adyen, das gerade an die Börse gegangen ist, wo es mit enormen 16 Milliarden Euro bewertet wird. Beide Unternehmen verdienen ihr Geld damit, Händlern möglichst viele Zahlungsarten für deren Kunden bereitzustellen und diese auch abzuwickeln. Früher war das die Aufgabe der Banken, doch viele von ihnen verpassten in diesem Bereich den Sprung ins Internet. In der Leerstelle haben sich nun die Wirecards und Adyens ausgebreitet.
Das Aschheimer Unternehmen hat es damit geschafft, nicht nur zu einem der globalen Marktführer im boomenden Zahlungsverkehr aufzurücken, sondern auch zum viertgrößten an der Börse gelisteten deutschen Finanzinstitut zu werden, nach Deutscher Börse, Allianz und Münchner Rück. Die Commerzbank (Börsenwert zehn Milliarden) wird von Wirecard schon länger übertrumpft. Am 5. September werden die Aschheimer der Commerzbank wohl sogar den Platz im Dax streitig machen. Die Deutsche Bank muss die erste Börsenliga zwar noch nicht verlassen, weil es für den Rauswurf hohe Hürden gibt. Doch bereits der Abstieg der Commerzbank ist für viele am Finanzplatz Frankfurt eine Schmach.
Dabei nennt Wirecard-Chef Markus Braun das Unternehmen, das an diesem Donnerstag seine Halbjahreszahlen vermelden wird, noch nicht einmal Bank oder Finanzinstitut. Und tatsächlich verdient Wirecard das Geld auch eher auf wenig glamouröse Weise. Wenn zum Beispiel ein Kunde im Internet bezahlt, sei es mit Kreditkarte, Paypal oder Lastschrift, kommt Wirecard ins Spiel. Wirecard versichert dann dem Händler, dass das Geld ankommt. Später wird die Kreditkartenfirma den Betrag überweisen. Wirecard zieht seine Gebühr ab und überweist den Rest an den Händler, trägt das Risiko. Die Margen für solche Geschäfte sind gering. Die Masse aber macht es. Und seit der Onlinehandel boomt, verdienen diese nachgelagerten Firmen Hunderte Millionen Euro.
Jedoch stehen sie auch in direkter Konkurrenz zu traditionellen Banken. Wirecard hat eine Vollbanklizenz, bietet Kreditkarten, Kredite und Konten an und hat sich auch auf das Bezahlen mit Smartphone spezialisiert. Zudem kooperiert es mit asiatischen Anbietern wie Alipay. Wenn ein Chinese in Deutschland mit Alipay zahlt, wickelt Wirecard das Geschäft ab.
Geht bei Wirecard alles mit rechten Dingen zu? Dieser Frage widmete sich die FT in einer Serie
Dass die Aschheimer Firma nun mehr wert ist als Deutsche Bank und Commerzbank, zeigt aber nicht nur, wie wichtig Onlineshopping geworden ist. Es offenbart auch einmal mehr die Schwäche der beiden großen deutschen Privatbanken, die die Finanzkrise immer noch nicht ganz verarbeitet haben. Andere große Geldhäuser in Europa verdienen durchaus wieder Milliarden, bringen es an der Börse reihenweise auf beachtliches Gewicht, können mit dem Strukturwandel gut mithalten. Die Deutsche Bank aber kämpft seit Jahren gegen den wachsenden Bedeutungsverlust an. Es ist eine Abwärtsspirale aus Sparprogrammen, sinkenden Erträgen und wieder neuen Sparprogrammen. Der neue Bankchef Christian Sewing versucht, das Geldhaus als simple europäische Investmentbank zu positionieren. Noch immer aber wirkt die Bank wie ein kaum steuerbares Gebilde. Zudem gibt man Jahr für Jahr Milliarden für die Boni der Investmentbanker aus, deren krumme Geschäfte zuvor hohe Strafen verursachten. Um ausreichend in neue und schnelle IT-Systeme zu investieren, fehlt nun das Geld.
Rund 95 000 Mitarbeiter beschäftigt die Deutsche Bank an ihren weltweit 2400 Standorten. Wirecard kommt gerade einmal auf 4600 Mitarbeiter. Dennoch hat das Unternehmen zuletzt 259 Millionen Euro Gewinn gemacht, während die Deutsche Bank 2017 erneut Verluste auswies.
Die Geschichte des Aufsteigers reicht zurück bis ins Jahr 1999. Bereits zu Anfang spezialisierte sich das Unternehmen auf Bezahlungen im Internet. Da Onlinehandel rund um die Jahrtausendwende noch kein großer Markt war, hatte Wirecard zunächst vorrangig Kunden aus dem Kasino- und Pornobereich. In den Jahren darauf wuchs Wirecard kontinuierlich. Doch der Aufstieg warf Fragen auf. 2015 konfrontierte die Financial Times das Unternehmen in einer längeren Serie mit mehreren Unstimmigkeiten in der Bilanz und bei Zukäufen. Tenor: Bei der Wirecard ist alles wacklig wie ein Kartenhaus. Über Monate hinweg folgte Artikel auf Artikel, Wirecard wies alles zurück. Den Kurs der Aktie beeinflusste das jedoch nicht langfristig. Sogar die Analysten von Deutscher Bank und Commerzbank scheinen weiterhin angetan. Wie alle anderen Finanzexperten, die das Unternehmen verfolgen, sprechen auch sie sich für die Aktien von Wirecard aus.
Kein Wunder, dass Wirecard-Chef Braun den Dax-Aufstieg offenbar nur als Zwischenetappe sieht. "Die Zukunft wird das, was wir bereits erreicht haben, in den Schatten stellen", sagte er diese Woche anlässlich des bevorstehenden Dax-Aufstiegs. Und was hält man in den Doppeltürmen der Deutschen Bank nun davon, dass Wirecard vorbeizieht? Dort löst die Börsenbewertung inzwischen nur noch Achselzucken aus. Nach Jahren der Dauerkrise sind sie dort einfach vieles gewöhnt.