Wenn jemand aus Brüssel in die deutsche Innenpolitik wechselt, trifft er in Berlin auf zweierlei: Widerstand und Skepsis. Im Berliner Kosmos, der so gerne um sich selbst kreist, sind Menschen, die es ernsthaft in den europäischen Institutionen ausgehalten und diese sogar für einflussreich befunden haben, mindestens suspekt. Martin Schulz, der gescheiterte Kanzlerkandidat der SPD, hat es leidvoll erfahren müssen. Sein Schicksal schreckt Nachahmer allerdings nicht ab. Anfang Januar wechselt nun Jakob von Weizsäcker aus Brüssel nach Berlin. Der SPD-Europaabgeordnete wird Chef der Grundsatzabteilung im Bundesfinanzministerium.
Mit der Berufung von Weizsäckers als Chefökonom vollzieht Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) einen klaren Kurswechsel. Sein Vorgänger Ludger Schuknecht war Verfechter einer strengen Austeritäts- und Ordnungspolitik; er argumentierte oft gegen die weitere Verschuldung des Staates. Außerhalb Berlins trug ihm das den Beinamen "Deutscher Taliban" ein. Der 48 Jahre alte Nachfolger ist da deutlich offener. Er hat in Wales Abitur gemacht, in Bonn und Lyon Physik studiert und später an einer Pariser Elite-Uni sein Diplom in Volkswirtschaft gemacht. Von Weizsäcker ist frankophil, liebt die britische Debattenkultur. Er hat bei der Weltbank gearbeitet, im Thüringer Wirtschaftsministerium und später im Europaparlament. Er lebt mit der Familie in Thüringen. Ein waschechter Ostdeutscher ist er allerdings nicht. Von Weizsäcker stammt aus Heidelberg, er ist ein Großneffe des Altbundespräsidenten Richard von Weizsäcker.
Exklusiv Krisenvorsorge:Bessere Hilfe für Arbeitslose in Europa
Der von Finanzminister Scholz vorgeschlagene europäische Finanztopf würde Deutschland pro Jahr zwei Milliarden Euro kosten. Doch er käme auch den Bundesbürgern zugute.
Die Berufung von Weizsäckers ist durchaus mutig; jedenfalls geht sie klar gegen den deutschen Zeitgeist. Der ist gegen Euro-Bonds, also europäische Wertpapiere. Von Weizsäcker ist grundsätzlich dafür: Er entwarf einst als Mitarbeiter der Denkfabrik Brügel, die von europäischen Staaten getragen wird, gemeinsam mit dem Franzosen Jacques Delpla ein Modell für Gemeinschaftsanleihen. Jean-Claude Juncker, damals noch Chef der Eurogruppe, also des Gremiums der Finanzminister aus den Euro-Staaten, brachte es in die Debatte ein. Der Vorschlag wurde aus Deutschland so heftig abgeschmettert, dass sich seither kaum jemand wagt, das Wort Euro-Bonds überhaupt auszusprechen. Und das, obwohl renommierte Ökonomen einen gemeinsamen Anleihemarkt als nötig ansehen, um den Euro sicher zu machen.
Eine andere Idee des designierten Chefökonomen wird zumindest öffentlich diskutiert, nämlich die einer europäischen Arbeitslosenversicherung. Das geht vor allem auf Olaf Scholz zurück, der das Modell einer Rückversicherung propagiert. Die Staaten zahlen in einen Topf, aus dem sie unter bestimmten Bedingungen Geld als Kredite erhalten. Von Weizsäcker hatte Anfang des Jahres zusammen mit dem spanischen Europaabgeordneten Jonas Fernandez und dem Berliner Ökonomieprofessor Sebastian Dullien einen ähnlichen Vorschlag vorgelegt.
Wie heftig der Widerstand des alten und neuen Koalitionspartners CDU/CSU in der Bundesregierung ist, wurde am 12. Juni deutlich. Es war früher Abend, im Berliner Europa-Haus Unter den Linden hatten von Weizsäcker und Dullien zusammen mit Clemens Fuest, dem Präsidenten des eher als konservativ geltenden Münchner Ifo-Instituts zur Diskussion über eine EU-Arbeitslosenversicherung eingeladen. Mit dabei ist auch ist Ralph Brinkhaus, damals noch Vize-Fraktionschef der Union und zuständig für Haushalts- und Europapolitik. Kalkül des Abends sollte es sein, dass der konservative Ökonom Fuest dem Unionsabgeordneten die Idee des Sozialdemokraten von Weizsäcker ein Stück weit interessanter machen könnte - eine Fehlkalkulation. Brinkhaus, der direkt von einer Fraktionssitzung kommt, in der die Abgeordneten CDU-Parteichefin Angela Merkel die europapolitischen Kompetenzen beschneiden wollten, wollte nichts hören von gemeinsamen Versicherungen: Er sei gegen eine Transferunion und dabei bleibe es. Jedes Argument perlte an ihm ab wie an Teflon.
Neue Töne: Der deutsche Handelsbilanzüberschuss soll kritisch hinterfragt werden
Inzwischen ist Brinkhaus Unions-Fraktionschef und Merkel nicht mehr CDU-Vorsitzende. Die Machtverschiebung hat die große Koalition zu einem fragilen Zweckbündnis gemacht, dass jederzeit platzen kann. Von Weizsäcker weiß, was auf ihn zukommt, wenn er am 7. Januar 2019 in der Berliner Wilhelmstraße anfängt. Womöglich ist er den Job schnell wieder los.
Allerdings ist es so, dass seine Zeit als Abgeordneter nach der Europawahl im Mai wohl ohnehin beendet wäre. Die deutschen Sozialdemokraten haben sich darauf eingestellt, dass sie nur etwa 15 Sitze werden erringen können. Von Weizsäcker war zwar Spitzenkandidat der Thüringer SPD, aber offenbar nur für Listenplatz 28 vorgesehen, er hätte es also kaum wieder ins EU-Parlament geschafft. Das Angebot von Scholz kam also gerade recht. Besonders am Herzen liege ihm Europa, sagt von Weizsäcker nun im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. Aber er wolle auch herauszufinden, wo Deutschland noch mehr investieren müsse, etwa in Infrastrukturen oder Universitäten. Und es sei Zeit, die "etwas schräg" geführte Debatte um den deutschen Handelsbilanzüberschuss neu auszurichten. Man müsse prüfen, ob ein hoher Überschuss auf Dauer "im wohlverstandenen Interesse Deutschlands" liege. Frankreich oder die USA etwa bewerten die vielen deutschen Exporte immer wieder als unfaire Handelspraxis. Entsprechend sind von Weizsäckers Aussagen nun wirklich neue Töne im Bundesfinanzministerium, wie man sie zu Zeiten seines Vorgängers und des damaligen Ministers Wolfgang Schäuble eher nicht hören konnnte.