Finanzmärkte:Das ewige Spiel

Die Menschen trauen sich wieder an die Börse, weil die Aktienkurse auf immer neue Rekordhöhen steigen. Doch Vorsicht: Die Geschichte kennt diese Phasen von Euphorie, die häufig im Jammer enden.

Von Markus Zydra

Man spricht in Deutschland wieder über das schnelle Geld, nachdem die Börsen lange Zeit als tabu galten. Die Finanzkrise hatte deutschen Anlegern den letzten Mut geraubt. Sie blieben misstrauisch, obwohl die Börsenkurse seit 2009 Jahr für Jahr steigen. Der deutsche Aktienindex Dax hat 2017 noch einmal knapp 20 Prozent Plus gemacht, und die Immobilienpreise in den Großstädten klettern. Der irre Hype um die Kryptowährung Bitcoin, deren Wert sich binnen zwölf Monaten erst um den Faktor 20 erhöhte, um dann rapide abzustürzen, belegt, dass die Zocker zurück sind: Hierzulande und im Rest der Welt unter den Menschen, die für Spekulationen das nötige Kleingeld besitzen.

"Teure Wertpapiere können immer noch viel teurer werden."

Für einige Anleger mag es eine irritierende Situation sein. Da stand man viele Jahre an der Seitenlinie und traute sich nicht aufs Spielfeld des Börsen-Casinos, um rückblickend beispielsweise festzustellen: Der Dax ist von 7400 Punkten im Jahr 2013 auf nun über 13 000 gestiegen. Das gibt auch dem vorsichtigsten Zeitgenossen Stoff für Selbstzweifel: Soll ich jetzt kaufen? Geht da noch was? Oder ist der Höhepunkt erreicht, und fortan fließt nur noch das "dumme" Geld in den Markt?

Die älteren Semester kennen das Spiel, dessen Startschuss nun ertönt ist. Diese Phasen, in denen Menschen vom Jackpot an der Börse träumten, waren in den vergangenen 30 Jahren einige Male zu bestaunen. Manche machten da ihr schnelles Geschäft; aber manche verloren alles.

Der kanadische Ökonom John Kenneth Galbraith hat die Geschichte der Finanzkrisen untersucht, und ihm ist dabei immer wieder das "Kurzzeitgedächtnis" der Märkte aufgefallen. Die "Welt des Geldes" vergesse finanzielle Pleiten allzu schnell. Menschen würden die Erfahrungen der Vergangenheit als "Ausflucht" abtun, weil man das Großartige der Gegenwart nicht erkenne. Derzeit gelten die Aktien von Amazon, Facebook oder Apple als hip. Anleger kaufen sie unbesehen. Der Glaube ist stark. Doch können Preise ewig steigen?

Ein Blick auf die Aktienbörsen der vergangenen 30 Jahre (siehe Chart) zeigt, dass sich der Finanzmarkt in seinem Zyklus verhält wie ein Ball, den man in die Luft wirft. Auch Börsen erleben physikalische Schwerkraft, und genau das ist die Ökonomie, die "Minsky-Moment" genannt wird. Der amerikanische Ökonom Hyman Minsky hat die dauernde Instabilität einer Volkswirtschaft mit ihrem Auf und Ab eindrücklich beschrieben: Nach einer langen Aufschwungphase komme unweigerlich der Moment, da sich die Dynamik umkehre und die spekulative Seite aller Investitionen offenbar werde. Dann würden Kredite platzen, es komme zu Zwangsversteigerungen, Banken rutschten in die Krise, die Wirtschaft kollabiere.

Die Finanzkrisen 1929, 1998, 2000 bis 2003 oder ab 2007 mögen jeweils unterschiedliche Zünder gehabt haben, in ihrer Struktur verliefen sie ziemlich ähnlich. Börsen sind Sensibelchen. Euphorie und Jammer, großes Glück und tiefe Depression gehören zu ihrem komplexen Charakter. Wie mögen sich die Börsen gerade jetzt fühlen?

Man kann das grob messen, mit dem sogenannten Angstbarometer. Die Profis sprechen vom Volatilitätsindex. Dieser berechnet, wie stark die Aktienkurse schwanken. Je stärker die Schwankung, desto größer ist die Unruhe. Derzeit ist die Volatilität niedrig, die Börsen wirken entspannt. Aber das muss nichts heißen. "Teure Wertpapiere können immer noch viel teurer werden", sagt James Montier, Investmentstratege der Fondsgesellschaft GMO. Er spürt an den Märkten einen "Über-Optimismus". Die Leute "kaufen etwas, von dem sie wissen, dass es teuer ist, weil sie denken, sie könnten schneller aussteigen als alle anderen." Das sei keine Investition mehr, sondern Spekulation.

Die Finanzmärkte haben sich in den vergangenen 30 Jahren stark verändert. Mit China, Indien und Russland kamen neue Akteure in die internationale Finanzwirtschaft. Der technologische Fortschritt führte zu einer Automatisierung des Börsengeschäfts. Computer handeln Aktien auf Basis von Algorithmen in Millisekunden. Der Mensch scheint die Kontrolle zu haben, weil er die Software programmiert. Doch manchmal geschehen Dinge, die keiner so richtig versteht, etwa ein Flash Crash, bei dem die Preise binnen Minuten purzeln, um sich dann wieder zu erholen.

Ein Blick auf die Finanzgeschichte der vergangenen Dekaden legt nahe, dass die Zahl der Krisen zugenommen hat, einerseits durch die wachsende Vernetzung der Märkte. Das erhöht die Anfälligkeit. Andererseits fließt immer mehr Geld an die Börsen, auch zur Finanzierung der realen Wirtschaft. Kommt es zum Crash, sind sofort auch Unternehmen und Jobs betroffen.

Die Märkte sind gefährlicher geworden. "Aktien bieten langfristig immer noch gute Renditen, aber nur, wenn man sie über mehrere Dekaden hält", sagt MIT-Ökonom Andrew Lo. Bei realistischeren Zeitperioden wie etwa fünf Jahren, sagt Lo, seien die Verlustrisiken bei Aktieninvestitionen deutlich gewachsen.

Die grundlegende Erkenntnis, dass Börsen riskanter sind, als man gemeinhin dachte, ist dem Mathematiker Benoît Mandelbrot zu verdanken. "Nach der konventionellen mathematischen Normalverteilung dürfte es zwischen 1916 und 2003 nur 58 Mal passiert sein, dass der amerikanische Dow-Jones-Aktienindex an einem Tag mehr als 3,4 Prozent steigt oder fällt. In Wahrheit geschah dies an 1001 Tagen", berechnete Mandelbrot, und: "Theoretisch sollte eine Sieben-Prozent-Schwankung des Dow nur alle 300 000 Jahre vorkommen. Tatsächlich ist es zwischen 1916 und 2003 insgesamt 48 Mal geschehen."

Finanzkrisen sind häufig Folge von zu hoher Verschuldung. An den Börsen werden viele Kredite gehandelt, und wenn sie platzen, kann es zu einer Kettenreaktion kommen. Der Kollaps des US-Immobilienmarkts 2007 hat das erneut gezeigt. Die globale Verschuldung ist seit damals um 70 Billionen auf 217 Billionen Dollar gestiegen, so Daten des Institute of International Finance. Das ist ein neuer Höchststand. Der Wert aller weltweit börsengehandelten Aktien ist auf knapp 100 Billionen Dollar gestiegen, meldet Bloomberg. Auch das ein neuer Rekord.

"Ich bin nicht sicher, ob es in der Geschichte eine Entsprechung für heute gibt."

Sind das Warnsignale? Der Finanzmarktanalyst Russell Napier hat sich in seinem Buch "Anatomy of the Bear" mit den wichtigsten Börsenturbulenzen und Bärenmärkten beschäftigt. "Ich bin nicht sicher, ob es in der Geschichte eine Entsprechung für heute gibt", sagt er. Die Welt sei noch nie in eine Rezession gerutscht, wenn Zinsen und Inflation so niedrig gewesen seien wie heute. Läuft es dieses Mal anders, und bleibt der Welt ein Crash erspart?

Diese Hoffnung findet im englischen Bonmot "This time it's different" ihren Ausdruck, mit dem Börsenoptimisten in der Geschichte immer wieder extrem hohe Aktienkurse verteidigt haben. Der Fondsinvestment-Pionier John Templeton nannte sie die verlustträchtigsten vier Worte aller Zeiten. Die Lage im Jahr 1929 sei natürlich anders als 1987 oder 1998 gewesen. Aber teure Aktien bleiben teure Aktien, egal wie sich die Welt verändert. Dieser Grundsatz, so darf man Templeton interpretieren, gelte in allen Zeiten. Je länger ein Boom dauert, desto eher folgt der Kollaps.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: