Süddeutsche Zeitung

Finanzkrise:Zittern in der Türkei

Das Land steckt in der tiefsten Finanzkrise seit 15 Jahren. Viele Unternehmen erklären sich für insolvent - so viele, dass Ankara erwägt, die Regeln zu verschärfen.

Von Christiane Schlötzer, Ankara

Mit der flachen Hand tätschelt der Pilot das Metall, "das ist unser Baby", sagt er. Das "Baby" hat Bullaugen, zwei Cockpitsitze, sein Name: T129 Atak. Es steht in einer hellen, aufgeräumten Werkshalle der Firma Turkish Aerospace, etwas außerhalb von Ankara. Seinen eigenen Namen will der türkische Testpilot nicht sagen, nur so viel: Er habe fast alle Kampfhubschrauber der Welt geflogen, amerikanische und russische inklusive. Und als er erstmals mit dem türkischen Eigenbau abhob? "Da haben wir hier alle gezittert", sagt er, wie die Rotorblätter.

Den Atak bauen sie nun schon in Serie, für die türkische Armee, Pakistan will ihn auch haben. Wichtige Teile des Kampfhubschraubers stammen aus Italien, Frankreich, Deutschland. Bei Turkish Aerospace aber wollen sie in Zukunft immer mehr davon selbst fertigen. In der Helikopterhalle hängt ein Plakat von der Decke, darauf steht: "Unsere Augen richten sich in die Höhe." Der Pilot klopft wieder auf das Metall: "Wir sind stolz auf das, was wir in den letzten fünf Jahren erreicht haben."

Die Türkei steckt mitten in der tiefsten Finanzkrise seit 15 Jahren, und blickt schon wieder nach vorne. Sie will ein Hochtechnologieland werden - und trägt doch schwer an den Lasten der jüngsten Vergangenheit. Nach dem Putschversuch vor knapp zweieinhalb Jahren wurden mehr als 100 000 Menschen festgenommen, etwa 50 000 sind noch in Haft. Qualifizierte Akademiker verließen in Scharen das Land. Der dramatische Absturz der Lira - bis zu 40 Prozent gegenüber dem Dollar seit Januar - hat viele Ursachen, aber er ist auch eine Art Misstrauensvotum der Märkte wegen der politischen Unwägbarkeiten in Ankara. Zuletzt hat sich die Türkische Lira leicht erholt. Die Regierung bemüht sich wieder um bessere Beziehungen zur EU und zu den USA.

Auf der Insolvenzliste stehen Teppichhersteller, Tunnelbauer und eine Traditionsmolkerei

Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan sieht bis heute überhaupt "keine Finanzkrise". Einer seiner engsten Berater, Ibrahim Kalın, rechnet nicht mit einer Rezession 2019 - im Gegensatz zu Ratingagentur Moody's, die schon davor gewarnt hat. "Wir sehen eine langsame, aber beständige Erholung", sagt Kalın indes.

Der Präsidentenberater hat sein Büro im Palastkomplex, den Erdoğan errichten ließ. Gerade wird auf dem riesigen Gelände noch eine Bibliothek gebaut: tempelartig, mit Kuppelaufbau und Säulen. US-Präsidenten haben sich ähnlich monumental verewigt. Für Erdoğans Großprojekte soll es trotz Lirakrise keinen Baustopp geben, heißt es im "Investment Office" des Präsidenten. Dort wird eine Liste herumgereicht, darauf steht immer noch der "Kanal Istanbul": 45 Kilometer lang, zwischen Schwarzem Meer und Marmarameer, ein zweiter Bosporus mit zehn Brücken, für 20 Milliarden Dollar - wegen der massiven Eingriffe in die Natur hoch umstritten. Auch ein dreistöckiger Tunnel unter dem Bosporus, dem echten, soll gebaut werden, veranschlagte Kosten: 3,5 Milliarden Dollar. Unklar ist, welche Banken die Megaprojekte finanzieren könnten. Erst jüngst wurden drei staatlich kontrollierte Kreditinstitute mit 1,8 Milliarden Dollar aus der Arbeitslosenversicherung gestützt. Kalın sagt, Ähnliches habe es auch früher gegeben, das sei "ohne Risiko".

Dass die Krise nicht nur ein Hirngespinst besorgter Ökonomen ist, belegen täglich neue Hiobsbotschaften. Gerade hat die private Fährgesellschaft IDO angekündigt, ihren Verkehr in Istanbul einzustellen, ihr schottischer Partner drängte darauf, der gestiegenen Kosten wegen, und weil ein Tunnel unter dem Marmarameer - auch eines von Erdoğans Großprojekten - die Passagierzahlen schrumpfen ließ. Dabei hat der Tunnel selbst auch zu wenig Nutzer. Der Staat gab den Betreibern eine Garantie und zahlt nun drauf.

Bislang haben nach einem Bericht der Zeitung Hürriyet 750 Firmen "Konkordato" angemeldet, das heißt: Sie suchen einen Ausgleich mit den fordernden Banken. Weil so viele Unternehmen sich für insolvent erklären, denkt man in Ankara darüber nach, die Regeln zu verschärfen. Man hat offenbar den Verdacht, dass es auch betrügerische Konkurse gibt.

Auf der Insolvenzliste stehen viele etablierte Firmen, zum Beispiel eine 1974 in Trabzon gegründete Molkerei, bekannte Schuhhersteller, auch ein Teppichproduzent aus Gaziantep, der für Erdoğans neue Großmoschee auf einem Istanbuler Hügel den Bodenbelag fertigte. Diese Firma ist 44 Jahre alt und exportierte in 20 Länder. Der Großkonzern Alarko legt ein Erdgaskraftwerke in der Westtürkei für ein Jahr still, wegen der Krise. Ein Tunnelbauer, der für eine neue Istanbuler Metrolinie buddelte, ist auch insolvent. Ärzte klagen, die Grippeimpfstoffe gingen aus; eine Apothekervereinigung erklärte, dass mehrere Medikamente wegen des Dollarkurses nicht mehr eingeführt werden könnten, darunter Mittel gegen Diabetes.

Die Deutsch-Türkische Industrie- und Handelskammer hat 900 Mitglieder. Ende September hat sie auf einer Versammlung die anwesenden Vertreter von 63 Firmen befragt, ob sich die Krise auf ihre Pläne auswirkt. Gut die Hälfte beklagte einen Rückgang der Umsätze, fast 40 Prozent die Abwanderung von qualifiziertem Personal. Aber beinahe 40 Prozent sahen auch eine Chance, von der schwachen Lira zu profitieren, weil sie für den Export produzieren. Gut 40 Prozent sagten wiederum, sie würden Investitionen zurückstellen. "Vieles hängt von den politischen Rahmenbedingungen ab", sagt Thilo Pahl, der Geschäftsführer der Kammer. Da aber gibt es immer wieder Überraschungen. So wurde jüngst verlangt, Exporterlöse müssten in Lira getauscht werden. "Da war in der Kammer viel los", sagt Pahl. Inzwischen habe man sich mit verständigt, dass das Geld auch wieder in ausländische Währungen zurückgetauscht werden kann. Pahl: "Aber so etwas verunsichert erst mal."

Auch der größte türkische Industrieverband, Tüsiad, formuliert oft Mahnendes: Die Türkei müsse neues Vertrauen schaffen, und dazu gehörten eben auch ein funktionierendes Rechtssystem und demokratische Grundfreiheiten.

Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich in der Türkei seit 2002 verdreifacht, solange regiert die konservative AKP. Wenn es nun nicht mehr aufwärts geht, wie werden die Wähler der AKP reagieren, die zuletzt bei allen Wahlen Erdoğan Mehrheiten sicherten? Der regierungskritische Ökonom Mustafa Sönmez sagt: "Ich erwarte keine großen Demonstrationen und keine soziale Explosion." Schließlich sei das Land "mittlerweile ein Polizeistaat". Aber bei der Kommunalwahl im März 2019 könnten die Wähler ihrem Unmut Luft machen.

Bis dahin dürfte die Regierung versuchen, den Unmut in Grenzen zu halten. Nachdem die Inflation im Oktober gut 25 Prozent erreicht hat, wurden Firmen zu freiwilligen Preissenkungen aufgefordert. In Supermärkten wurden einzelne Produkte billiger. Eine neue Umfrage des Instituts Metropoll, veröffentlicht vom Nachrichtenportal diken, ergab: 63 Prozent der Türken glauben, dass sich die wirtschaftliche Lage 2019 verschlechtern wird, unter den AKP-Wählern sind es immer noch 42 Prozent.

Für Baufirmen hat die Regierung einen Notfallfonds geschaffen. Der Sektor war bislang Motor des Aufschwungs. Der Ökonom Sönmez sagt: "Firmen, die sich nicht anpassen, werden aufgeben." Ein AKP-Mann sagt, "regierungsnahe Firmen werden es leichter haben zu überleben". Seinen Namen will er nicht nennen.

Auch türkische Unternehmen haben lange von den niedrigen Kreditzinsen in der EU und in den USA profitiert, nun werden die Fremdwährungskredite zur Last. Aber nicht für alle. Kemal Yillikçi, Direktor der Hubschraubersparte bei Turkish Aerospace, sagt: "Natürlich sind unsere Kosten gestiegen, aber die geben wir an unsere Kunden weiter." Die Kunden? Das ist der türkische Staat.

Bei Turkish Aerospace zeigen sie auch ein Video von einem türkischen Kampfjet, 2023 soll er fliegen. Türkischer Größenwahn? Der Pilot sagt, einige Ingenieure, die das Land verließen, kämen schon wieder zurück. "Sie haben im Ausland nicht gefunden, was sie gesucht haben."

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Quelle:
SZ vom 21.11.2018
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