Süddeutsche Zeitung

Finanzkrise:Argentinien ist wieder Bittsteller beim IWF

Lesezeit: 3 min

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

An diesem denkwürdigen Dienstag, um Punkt ein Uhr mittags, unterbrachen die wichtigsten Fernsehkanäle Argentiniens ihr Programm. Das Wort hatte Staatspräsident Mauricio Macri, 59. Er verlas eine Rede an die Nation, die keine drei Minuten dauerte und sicherlich die schwerste seiner bisherigen Amtszeit war. Macri sagte: "Ich habe beschlossen, Gespräche über Finanzhilfen mit dem Internationalen Währungsfonds aufzunehmen." Er habe soeben mit IWF-Chefin Christine Lagarde telefoniert, die ihm versichert habe, zügig Verhandlungen über einen Kredit zu beginnen. "Wir gehen den einzigen möglichen Weg, um dem Stillstand zu entkommen und eine große Wirtschaftskrise zu verhindern, die uns allen schaden würde", ergänzte Macri.

Argentinien als Bittsteller beim IWF - damit lebt ein nationales Trauma wieder auf. Erinnerungen an die Schuldenkrise um die Jahrtausendwende werden wach, die Ende 2001 in den Kollaps führte, zur größten Staatspleite der Nachkriegszeit. Millionen Sparer verloren damals große Teile ihres Besitzes. Und der IWF gilt seither als kollektives Feindbild nahezu aller Argentinier. Als Ende 2005 der damalige Präsident Néstor Kirchner sämtliche IWF-Schulden vorzeitig zurückzahlte, fast zehn Milliarden Dollar, wurde das als politische Befreiung empfunden - das Ende einer Geiselhaft und als Epochenwandel. Argentinien war wieder selbstbestimmt. Darauf gründete sich ein großer Teil des Patriotismus und Populismus in der Regierungszeit von Néstor Kirchners Witwe Cristina Kirchner.

Der reiche Unternehmer Macri war vor zweieinhalb Jahren mit dem Versprechen angetreten, die fast schon chronischen Wirtschaftsprobleme Argentiniens seriös und dauerhaft zu lösen, den Staatshaushalt aufzuräumen, sein Land wieder zu einem verlässlichen Partner an den globalen Finanzmärkten zu machen. Dass er nun den IWF um Hilfe bitten muss, zeugt von seiner Verzweiflung und Ratlosigkeit. Die Rede vom Dienstag ist nichts anderes als das öffentliche Eingeständnis seines Scheiterns - und zwar ausgerechnet in dem Jahr, in dem Argentinien erstmals die G20-Präsidentschaft übernommen hat.

Steigenden Zinsen in den USA hatten zuletzt zahlreiche Schwellenländer in aller Welt unter Druck gesetzt. Anleger zogen dort ihr Geld ab und investierten es an der Wall Street. Von der plötzlichen Kapitalflucht wurden in Lateinamerika auch Mexiko, Brasilien, Kolumbien und Chile überrascht, aber nirgendwo ging es so schnell wie in Argentinien. In der zurückliegenden Woche verlor der argentinische Peso acht Prozent an Wert gegenüber dem US-Dollar. Die argentinische Zentralbank versuchte alles, um die rasante Abwertung des Pesos abzudämpfen. Sie verkaufte an einem Tag so viele Dollar wie nie zuvor - vergeblich. Sie erhöhte den Leitzins auf rekordverdächtige 40 Prozent - ohne Ergebnis. Finanzminister Nicolás Dujovne kündigte Haushaltskürzungen in Höhe von 3,2 Milliarden Dollar an, um die Märkte zu besänftigen - auch das half wenig. Da erkannte Macri wohl, dass er keine andere mehr Wahl hatte als den aus argentinischer Sicht radikalsten Schritt zu gehen, den Anruf bei Lagarde.

Unter Marci wurde das Leben für viele Argentinier teurer

Die IWF-Chefin hatte Argentinien noch vor wenigen Wochen für seine "mutige Wirtschaftspolitik" gelobt. Auch bei Investoren galt Macri bis eben noch als der neue Superstar des Südens. Übersehen wurde dabei, dass sein Reformkurs bislang keineswegs so erfolgreich war, wie er versprochen hatte. Zwar kürzte er allerlei Sozialleistungen sowie Subventionen für Strom, Gas und öffentlichen Nahverkehr aus der Kirchner-Ära, um das Staatsdefizit zu senken. Aber die Inflation von derzeit rund 25 Prozent bekam er nie in den Griff, auch das Wachstum zog nicht wie geplant an. Unter dem Strich wurde mit Macri das Leben für fast alle Argentinier teurer, rund 1,5 Millionen Menschen rutschen unter die Armutsgrenze. Vor allem die Anleger an den internationalen Finanzplätzen freuten sich über Macris Kurs, aber wie es halt so ist in diesem gnadenlosen Geschäft: Dieselben Anleger ließen ihn jetzt im Stich - für eine Handvoll Dollar mehr.

Mit der Unterstützung des Währungsfonds sollte Absturz des Pesos vorerst abgebremst werden. Bislang scheint das nicht zu gelingen. Macri zahlt dafür aber in jedem Fall einen extrem hohen politischen Preis. Die dreifach gespaltene Opposition tritt bei der Ablehnung der stets an harte Konditionen geknüpften IWF-Kredite so einig auf wie nie zuvor. Vor allem wegen dieser Spaltung aber galt die Wiederwahl Macris im kommenden Jahr bislang als relativ sicher. Während seiner Fernsehbeichte war in den Gesichtszügen des Präsidenten abzulesen, dass er genau wusste: Mit dieser Rede ist das Rennen wieder offen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3973834
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.