Feministische Ökonomik:Nur Männer bestimmen, was Wirtschaft ist

Feministische Ökonomik: Collage aus historischen Aufnahmen von Hausfrauen aus den 50er- und 60er-Jahren.

Collage aus historischen Aufnahmen von Hausfrauen aus den 50er- und 60er-Jahren.

(Foto: Getty Images; Collage: Jessy Asmus)
  • Über Jahrhunderte haben allein Männer bestimmt, was Wirtschaft ist.
  • Die Ökonomie ignoriert ziemlich viele Arbeiten, die vor allem Frauen übernehmen.
  • Feministische Ökonominnen fordern eine Revolution der Wirtschaftstheorie.

Von Pia Ratzesberger, Wien/München

Sie beugt sich hinab, hakt die Arme unter den schweren Körper. Sie zieht ihn hinaus aus den weißen Laken, spürt den Atem in ihrem Nacken. Ein Fuß berührt den Boden, der zweite, nur ein paar Schritte zur Dusche. Die Frau hievt ihre Mutter voran, wie jeden Morgen, Zentimeter um Zentimeter. Stunden voller Mühe, Stunden voller Schweiß.

Doch diese Arbeit ist nichts wert, diese Stunden wird niemand registrieren, wie die weiterer Millionen Frauen in Deutschland. Die Arbeit der anderen aber, die Verträge austarieren und Fahrscheine kontrollieren, die Etiketten kleben und Ziegelsteine wuchten, die auf Bildschirme blicken, in Schnellzügen das Land durchqueren und mit dem Mähdrescher über die Felder ziehen, deren Arbeit ist ziemlich viel wert. Zumindest in den Wirtschaftsstatistiken.

Anhand ihrer entscheiden Politiker etwa über Steuersätze oder Subventionen, in irgendeiner Zahl, in Tabelle 5.4.1 oder 7.8.2, wird am Ende des Jahres die Arbeit des Fahrkartenkontrolleurs oder der Bauingenieurin verborgen sein. Sie wird einen Anteil daran haben, ob die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr wächst oder lahmt. Die Arbeit einer Frau aber, die ihre Mutter pflegt, wen interessiert die schon?

Die Ökonomie ist eine Männerwirtschaft

Wäre die Ökonomie eine von Frauen ergründete Wissenschaft wäre das vielleicht anders, vielleicht wäre ein Verständnis von Wirtschaft erwachsen, das nicht nur Löhne misst, nicht nur Produktion und Importe. Doch die Ökonomie ist eine Männerwirtschaft. Sie strebt danach, die Welt in Zahlen zu fassen, nur vergisst sie dabei mal eben die Hälfte der Bevölkerung.

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ignoriert ziemlich viele Aufgaben, die über Jahrhunderte den Frauen zugefallen waren. Kochen, waschen, putzen, alles was in den 50er Jahren eine vorbildliche Hausfrau mit Schürze und Schnellkochtopf übernahm. Alles, was trotz Alice Schwarzer und Vätern in Elternzeit auch heute noch vor allem die Frauen schultern, wenn sie Kinder umsorgen und Eltern pflegen.

Ohne die unbezahlte Arbeit würde eine Gesellschaft zusammenbrechen, würde keine Gemeinde bestehen, keine Familie. Die Deutschen verbringen im Jahr 89 Milliarden Stunden mit unbezahlter Arbeit. Viel mehr Zeit also als die 69 Milliarden Stunden, die ihnen Geld einbringen und trotzdem beschäftigt sich kaum jemand mit diesem gewaltigen Arbeitsvolumen. Die feministischen Ökonominnen forschen fern des Mainstreams, es gibt in Deutschland, Österreich und der Schweiz nicht viele Frauen, die sich mit dem eigenen Geschlecht auseinandersetzen. Wer nach oben will, der wird Ökonomin. Aber keine Feministin. Katharina Mader ist das egal.

"We want power not just flowers"

Ein Nachmittag in Wien, links und rechts des Weges klotzen futuristische Bauten, der Wind fegt die Fassaden entlang, Katharina Mader, 35, zieht die Lederjacke enger und verschränkt die Arme. Da vorne, sagt sie und deutet auf den grauen Glaspalast, das sei wohl das einzige Gebäude am Campus, das eine Frau entworfen hat. Ansonsten, Mader lacht: alles Männersache. Mader könnte eine der ersten Wissenschaftlerinnen im deutschsprachigen Raum werden, die zur feministischen Ökonomik habilitiert. Wenn sie die Männer denn lassen. An der Wand in ihrem Büro kleben zwei Postkarten, die ziemlich gut beschreiben, worum es Mader geht: "We want power not just flowers" schreit eine Frau von der einen Karte in den kleinen Raum. Die andere Postkarte, ganz in Schwarz, trägt die Worte: "Ich lass mich nicht verarschen."

Feministische Ökonominnen wollen sich nicht verarschen lassen von der klassischen Wirtschaftstheorie, die nur ein Geschlecht kennt, weil allein ein Geschlecht sie geschaffen hat. Bisher haben mehr als 70 Männer einen Wirtschaftsnobelpreis entgegengenommen. Aber nur eine Frau. Alfred Marshall nannte die Ökonomie einmal eine "Wissenschaft der Männer, wie sie im Alltagsgeschäft leben".

In den 30er Jahren wollten die Amerikaner endlich die Produktion im Land bewerten; bisher stapelten sich nur einzelne Statistiken, etwa über Verkaufszahlen oder Importe. Aber niemand konnte sagen, wie sich die gesamte Wirtschaft entwickelte, dabei war das nach dem Ersten Weltkrieg die alles überschattende Frage. Simon Kusznets, ein emigrierter Russe, arbeitete an der Entstehung des damaligen Bruttosozialprodukts entscheidend mit, empfahl die unbezahlte Arbeit miteinzuberechnen, nur Ländervergleiche seien dann nicht mehr möglich. Die Kollegen belächelten ihn: Genau das wolle man doch. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachten die Amerikaner mit dem Marshall-Plan schließlich ihre Statistiken nach Europa, damals berechnete man in Deutschland zum ersten Mal den Wert aller Güter, aller Dienstleistungen - ohne die unbezahlte Arbeit.

"Das andere Geschlecht", so beschrieb die französische Philosophin Simone de Beauvoir die Frau. Die Frau als all das, was der Mann nicht ist. In Anlehnung an Beauvoir spricht man in der feministischen Ökonomik von der "anderen Wirtschaft", Katharina Mader entwickelt Modelle, in denen beide Wirtschaften vereint werden könnten. Mit Hilfe ihrer Berechnungen könnten Politiker irgendwann prognostizieren, wie sich zum Beispiel Steuerkürzungen auf die unbezahlte Arbeit in ihrem Land auswirken würde. Wie die Politik das immense Arbeitsvolumen beeinflusst, das bisher niemand beachtet.

Die unbezahlte Arbeit würde das BIP kaputt machen

Was die konservativen Ökonomen vergessen, wenn sie die Kolleginnen mit ihrer ach so niedlichen Heimarbeit belächeln: Die Millionen Stunden an unbezahlter Arbeit beeinflussen eine Volkswirtschaft gewaltig. Wenn etwa eine Finanzkrise die Wirtschaft erschüttert, wenn der Staat seine Sozialausgaben kürzt, etwa Pflegeheime dichtmachen, helfen wieder einmal die Frauen aus. Dann nimmt die unbezahlte Arbeit zu, Frauen haben weniger Zeit für bezahlte Arbeit. Wobei es feministischen Ökonominnen im Zweifelsfall ziemlich egal ist, ob mehr Menschen für mehr Geld arbeiten, für mehr Wachstum. Ihnen geht es allen voran um Gleichberechtigung. Im Gegensatz zu den Statistikern.

Man könne die unbezahlte Arbeit nun einmal nicht mit berücksichtigen, heißt es beim Statistischen Bundesamt. Das BIP solle nicht das Wohlergehen einer Gesellschaft messen, also etwa wie gleichberechtigt es in einem Land zugeht. Sondern das BIP solle als Grundlage für politische Entscheidungen dienen, zum Beispiel zu Steuern oder Sozialversicherung. Die unbezahlte Arbeit aber werde nicht versteuert, sei nicht sozialversicherungspflichtig. Sie würde alle Aussagen des BIPs kaputt machen. Zwar erheben Statistiker die unbezahlte Arbeit mit Hilfe von Haushaltsbefragungen, allerdings nur etwa alle zehn Jahre und getrennt von der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, dem großen Gemälde der Wirtschaft eines Landes. Die Berechnungen haben keine unmittelbaren politischen Folgen.

Dass sie überhaupt durchgeführt werden, geht auf die Frauenbewegung in den 70er und 80er Jahren zurück, damals prangerten Ökonominnen zum ersten Mal den Sexismus der Statistik an. "Wir hatten diese Diskussionen doch alle schon einmal", sagt ein Mitarbeiter des Bundesamts. Die schwedische Journalistin Katrine Marcal schreibt in ihrem Buch "Machonomics" von einer Welt "in der Frauen weniger verdienen, unter schlechteren Bedingungen arbeiten und den Großteil unbezahlter Arbeiten verrichten, von denen dann behauptet wird, sie hätten mit Wachstum nichts zu tun und in der ökonomischen Statistik nichts verloren".

Die feministischen Ökonominnen wollen noch immer die Wirtschaftstheorie revolutionieren. Nicht nur Löhne sollen entscheiden, sondern auch Fürsorge, nicht nur Egoismus, sondern auch Hilfsbereitschaft. Fragt man Katharina Mader nach ihrer Utopie, dann spricht sie von Freiheit. Von der Freiheit, dass Frau und Mann sich ihr Leben so gestalten können, wie sie es sich wünschen, weil die Wirtschaft ihnen so viel Freiheit lässt. Ob es in ihrer Utopie noch einen Kapitalismus gibt? Mader überlegt für einen Moment und sagt dann: "Ein kapitalistisches System kann nie geschlechtergerecht sein, weil der Kapitalismus ein Patriarchat ist." Andererseits ein antikapitalistisches System sei eben Utopie, unerreichbar. Daran wolle sie sich nicht abarbeiten, sondern sie wolle die Veränderung jetzt, unmittelbar.

Sucht man nach einer Definition von Arbeit, sind im Duden primär vier Definitionen festgehalten: Erstens "Tätigkeit mit einzelnen Verrichtungen, zweitens "das Beschäftigtsein mit etwas", drittens "Mühe, Anstrengung". Erst an vierter Stelle folgt: "Berufsausübung, Erwerbstätigkeit, Arbeitsplatz". Auf die Frau, die ihre Mutter pflegt, treffen die ersten drei Bezeichnungen alle zu.

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