Familienunternehmen Pilz:Von der Hausfrau zur Firmenchefin

Renate Pilz sprang ein, als ihr Mann 1975 tödlich verunglückte. Seither treibt sie die Expansion des Unternehmens voran. Ende des Jahres übergibt sie die Führung ihren Kindern.

Von Dagmar Deckstein

So langweilig sich das Geschäft der "sicheren Automatisierungstechnik" auch anhören mag, so verbreitet ist diese Technik rund um den Globus. Ob in den Radioteleskopen des Paranal-Observatoriums in der chilenischen Atacama-Wüste, in der Seilbahn auf den Zuckerhut in Rio, in der Dresdner Schwebebahn oder im Riesenrad des London Eye, ob an den Gepäckbändern von Flughäfen, in Windrädern, Theaterkulissen oder, vor allem, in den automatisierten Fertigungsstraßen zahlloser Produktions-, Abfüll- oder Verpackungsbetriebe - die Steuerungssysteme der Firma Pilz sind immer mit dabei. Juniorchef Thomas Pilz, 49, hat diese globale, aber verborgene Präsenz einmal so zusammengefasst: "Wir sind die Besten, wir sind der Weltmarktführer. Das einzig Traurige dran ist halt nur, dass man uns nie sieht."

Das soll man ja eigentlich auch nicht. Geht es doch darum, sich nur sicher sein zu können, dass das Band, die Anlage, die Achter- oder Seilbahn "pilzgesteuert" reagiert und gegebenenfalls stoppt, wenn eine Störung auftritt. Hauptsache, niemand kommt zu Schaden in der Fabrik, am Berg, im Vergnügungspark - wo immer Menschen und Material automatisch fortbewegt werden oder Personen und Roboter inzwischen - Stichwort Industrie 4.0 - in der Produktion miteinander arbeiten. Dafür sorgen Sicherheits-, Steuerungs- und Kamerasysteme made by Pilz in Ostfildern bei Stuttgart. Hätte jedoch die Grande Dame des Hauses, die geschäftsführende Gesellschafterin Renate Pilz, vor 42 Jahren auf Nummer sicher gesetzt, wären weder sie und wohl auch nicht das Familienunternehmen dort, wo sie heute sind.

In den ersten Nachkriegsjahren gründete Renate Pilz' Schwiegervater Hermann Pilz eine Glasbläserei in Esslingen. Diese hatte sich auf die Herstellung von Glasapparaten für die Medizintechnik wie etwa Spritzen und später auf Quecksilberrelais, etwa für die automatische Ausschaltung von Treppenhausbeleuchtungen, spezialisiert. Als Vater Hermann erkrankte und Sohn Peter Pilz schon während seines Studiums der Elektrotechnik den Betrieb übernahm, war ihm schnell klar: Im Glas liegt keine Zukunft. Zumal mit dem anschwellenden Erdölboom Glas zunehmend von Kunststoff ersetzt wurde.

Peter Pilz sah schon gegen Ende der 1960er-Jahre voraus, dass die Zukunft des väterlichen Unternehmens im Wandel zur Elektronik und Mechatronik lag. Und setzte diese Neuausrichtung von Pilz auch gegen den väterlichen Widerstand durch. Aber nicht nur gegen dessen Widerstand allein. "Mein Mann war ein sehr begabter Techniker und ein einzigartiger Visionär", schwärmt Renate Pilz noch heute von dem Vater ihrer beiden Kinder Susanne Kunschert, 47, und Thomas. Peter Pilz' Innovationsfreude, seine Begeisterung für die Zukunft der Technikentwicklung als Vermächtnis anzunehmen und aus eigener Kraft fortzuführen, das hat sich Renate Pilz dann zur weiteren Lebensaufgabe gemacht. Sie musste es, nachdem die Familie und deren Unternehmen von einem schweren Schicksalsschlag getroffen wurden. Am 1. September 1975 stieg Peter Pilz am Stuttgarter Flughafen in eine Chartermaschine der damaligen DDR-Linie Interflug ein, um zur Leipziger Herbstmesse zu fliegen. Das Flugzeug, eine Tupolew TU-134 mit der Flugnummer 1107, stürzte im Landeanflug auf den vernebelten Flughafen Leipzig ab und riss 27 der 34 Insassen in den Tod. Auch Peter Pilz.

Familienunternehmen Pilz: Hohe Ziele: Auch in der Seilbahn auf den Zuckerhut in Rio de Janeiro, Brasilien, steckt die Sicherheitstechnik der Firma Pilz aus Ostfildern bei Stuttgart.

Hohe Ziele: Auch in der Seilbahn auf den Zuckerhut in Rio de Janeiro, Brasilien, steckt die Sicherheitstechnik der Firma Pilz aus Ostfildern bei Stuttgart.

(Foto: Antonio Scorza/AFP)

Da stand die damals 35-jährige Renate Pilz mit ihren beiden Kindern Thomas und Susanne, gerade acht und fünf Jahre alt, vor der Frage, ob sie das Familienunternehmen nicht einfach verkaufen sollte, um der Familie eine sichere Existenz für die Zukunft zu gewährleisten. Immerhin, gesteht die heute 77-jährige, aber zehn Jahre jünger wirkende Firmenchefin: "Ich hatte gerade mal Abitur und war danach halt Hausfrau und Mutter." Von Technik, geschweige denn komplizierter Elektronik hatte sie kaum Ahnung.

Aber die eignete sich Renate Pilz dann rasch an. Hatte sie doch ihren Mann mit seinen Plänen und Visionen stets interessiert begleitet. Einen Techniktüftler, der, so erinnert sich die langjährige Firmenchefin, "anfangs erst mal Maschinenbauer-Kunden davon überzeugen musste, dass sich Sicherheitselektronik in ihren Werkzeug-, Stanz- und sonstigen Fertigungsmaschinen bewähren würde. Die haben anfangs alle abgewinkt: Elektronik in unserer Mechanik - das geht ja gar nicht!" Ging dann aber doch, angesichts der neuen Automatisierungswelle in der industriellen Fertigung. Und so, sagt Renate Pilz schmunzelnd, "wollen derzeit manche auch noch nicht viel wissen von der Industrie 4.0, von der Mensch-Roboter-Kollaboration. Aber die wird sich angesichts des technischen Fortschritts, wie so viele andere Industriestandards bisher, auch durchsetzen."

So, wie sich eine unbedarfte Hausfrau durchgesetzt und das Unternehmen mit Engagement und Herzblut über die letzten vier Jahrzehnte weitergeführt hat. Sie ist nicht auf Nummer sicher gegangen, allen Kaufangeboten zum Trotz. "Ich wollte auf jeden Fall das Vermächtnis meines Mannes erhalten und weiterentwickeln." Die Ambition dafür geht auf ein Schlüsselerlebnis zurück, das Renate Pilz kurz nach dem Tod ihres Mannes auf einer Fachmesse hatte. "Ich war noch in dieser Messehalle unterwegs, da kam mir ein Schwarm junger Männer entgegen, die Richtung Ausgang strebten. Da sagte einer plötzlich: Au, halt, wir müssen noch mal zurück und schauen, was Pilz Neues hat." Ein Mitarbeiter der Berufsgenossenschaft habe ihr später einmal bestätigt, dass Pilz in Sachen elektronische Sicherheitstechnik Industriegeschichte geschrieben habe. Doch seinerzeit sei es schwierig gewesen, elektronische Maschinensteuerung von den Behörden überhaupt genehmigt zu bekommen. Aber ihr Messeerlebnis, sagt Renate Pilz, sei für sie schon so eine Art Initialzündung gewesen: "Schlagartig war mir klar, so ist es und so muss es bleiben. Dieses Unternehmen, das sich auf einem sehr guten Erfolgsweg befand, muss ich auf jeden Fall erhalten."

Dass das Unternehmen auch über die vergangenen 42 Jahre innovativ geblieben ist, verdankt es seinen außerordentlich hohen Investitionen in Forschung und Entwicklung: 20 Prozent vom Umsatz gibt Pilz jährlich dafür aus. Und die Erfolge knüpfen weiterhin an die einstigen Pionierleistungen an. So hat Pilz neuartige Lichtgitter erfunden, welche die Zusammenarbeit von Robotern und Menschen ohne Schutzzäune erlauben, SPS-Steuerungen (speicherprogrammierbare Steuerungen) für Industrie-4.0-fähige Automatisierungssysteme und das 3-D-Kamerasystem Safety-Eye sowie die als besonders sicher geltende Antriebstechnik "Motion Control". All das baut der Mittelständler in seinem neuesten, für 20 Millionen Euro errichteten und Ende 2015 in Betrieb genommenen Produktions- und Logistikzentrum in Ostfildern. Auch für den weltweiten Export, der 70 Prozent des Umsatzes ausmacht. Heute kann Renate Pilz das Tempo etwas drosseln, sich zurücklehnen und sagen: Wir haben es geschafft. Die Familie hat es geschafft.

Familienunternehmen Pilz: "Um das Vermächtnis ihres Mannes zu erhalten und weiterzuentwickeln", übernahm Renate Pilz nach dessen Unfalltod die Geschicke der Firma. Heute ist das Unternehmen ein führender Anbieter im Bereich Automatisierungstechnik.

"Um das Vermächtnis ihres Mannes zu erhalten und weiterzuentwickeln", übernahm Renate Pilz nach dessen Unfalltod die Geschicke der Firma. Heute ist das Unternehmen ein führender Anbieter im Bereich Automatisierungstechnik.

(Foto: PR)

Als Renate Pilz 1975 zunächst in den Beirat des schwäbischen Mittelständlers einstieg, beschäftigte der gerade mal knapp 200 Mitarbeiter. Heute ist das Unternehmen in 40 Ländergesellschaften präsent, hat 2200 Beschäftigte auf der Gehaltsliste und setzte zuletzt 306 Millionen Euro um. In zehn bis 15 Jahren, so die Seniorchefin, sollte die Milliarde beim Umsatz erreicht sein. Dafür hat die einstige "Nur-Hausfrau" nach Kräften beigetragen. Ehemann Peter hatte beizeiten verfügt, dass, sollte ihm etwas zustoßen, seine Hinterbliebenen einen Fremdmanager einstellen sollten. So geschah es dann auch. Bis 1994, als Renate Pilz befand: "Aus unserem Beirat heraus konnte ich nicht so eingreifen ins Unternehmen, wie ich es mir aus meiner Ungeduld heraus gewünscht hätte. Also habe ich, inzwischen gut eingearbeitet und vertraut mit unserem Unternehmen und seinem Innovationspotenzial, damals die Geschäftsführung übernommen."

Aber jetzt, so hat die Seniorchefin beschlossen, sei es an der Zeit, die Leitung an die beiden Kinder zu übergeben. Ende dieses Jahres zieht sich Renate Pilz aus der Geschäftsführung zurück. Ihre Kinder Susanne und Thomas steuern schon seit 2002 und 2005 das Unternehmen als Geschäftsführer mit. Und das von einem Gemeinschaftsbüro am Firmensitz in der Felix-Wankel-Straße in Ostfildern von drei Schreibtischen aus. Einer dieser Schreibtische wird von Anfang nächsten Jahres an leer bleiben. Renate Pilz wird sich dann verstärkt ihren Hobbys wie Lesen und Reisen sowie ihren vielfachen sozialen Engagements in aller Welt widmen.

Und sie ist sich heute sicher über ihre Entscheidung, dass die Leitung künftig allein bei ihren beiden Kindern liegt: "Sie werden, basierend auf unseren Unternehmenswerten und unserer Strategie, auf gute und bewährte Weise das Unternehmen weiterführen. Ich habe ja lange genug gesehen, wie sie arbeiten." Und, fügt Renate Pilz verschmitzt hinzu: "Die beiden können und kennen das Geschäft besser als ich. Das verschafft mir Gelassenheit."

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