Süddeutsche Zeitung

Fahrrad:Ab aufs Rad

In der Corona-Pandemie entdecken die Deutschen das Fahrrad: Die Umsätze steigen kräftig, besonders teure Elektroräder sind sehr gefragt. Der Boom ist so groß, dass es zu neuen Lieferengpässen kommen kann.

Von Anika Blatz, München

Nach der Probefahrt ist sich Claudia Becker sicher: Das Modell "Diamant Mandara Deluxe Plus" für fast 3100 Euro soll es werden. Wegen des angenehmen Fahrgefühls, sagt sie. Ein bisschen spiele auch Nostalgie mit: "Ich kenne den Hersteller noch von früher, als DDR-Marke." Mit ihrem neuen E-Bike, das sie über ihren Arbeitgeber steuerlich begünstigt als Dienstfahrrad leasen kann, will sie künftig jeden Tag zehn Kilometer zur Arbeit fahren. Auch ihre Partnerin Martina Zamecnikova will auf ein motorisiertes Rad umsteigen, um entspannter auf die Arbeit zu kommen. Außerdem fahre sie gerne schnell - und erwirbt ein Modell für nahezu 4500 Euro, eine Art "Mercedes" unter den E-Bikes, wie Filialleiter Bastian Gaiser sagt.

Im Münchner Osten betreibt Gaiser seit Februar das E-Bike-Geschäft "18 Grad". Gemeinsam mit seinen Partnern hat er die boomende Nachfrage nach Fahrrädern mit Elektroantrieb im vergangenen Jahr zum Anlass genommen, innerhalb weniger Monate zwei Filialen aus dem Boden zu stampfen, in München und in Ravensburg. 170 Räder auf einer Fläche von 300 Quadratmetern werden im Münchner Laden angeboten. Im Lager stehen weitere 1000 E-Bikes bereit - für den erwarteten großen Ansturm, nach dem Ende des Lockdowns.

Die Deutschen entdecken in der Corona-Pandemie das Fahrrad. Gut fünf Millionen Räder wurden laut Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) hierzulande 2020 verkauft, davon knapp zwei Millionen mit einem E-Antrieb. Die sogenannten Pedelecs kommen damit auf einen Anteil von fast 39 Prozent. Mittelfristig rechnet die Branche damit, dass jedes zweite neue Fahrrad einen Motor haben wird. Der Trend gehe dabei zu immer sportlicheren und teureren Modellen in allen Segmenten. Der gesamte Umsatz kletterte kräftig um 60,9 Prozent auf 6,44 Milliarden Euro.

Kunden wie Becker und Zamecnikova repräsentieren die Klientel, die in den letzten beiden Jahren ausgelöst hat, was gemeinhin als "Fahrradboom" bezeichnet wird. "E-Bike-Boom" wäre treffender, denn mehr als jeder dritte Deutsche greift mittlerweile zum motorisierten Rad, dort werden auch die großen Umsätze gemacht: Durchschnittlich 2600 Euro gaben Käufer 2020 für ein E-Bike aus, für konventionelle Räder 445 Euro, berichtet David Eisenberger vom ZIV.

Viele steigen von Bus und Bahn aufs Radl um

"Wir stehen schon seit einigen Jahren auf der Sonnenseite des Handels", sagt Hans-Peter Obermark vom Verband des Deutschen Zweiradhandels (VDZ), "Corona hat den Trend lediglich noch verstärkt." Während in Deutschland der gesamte Umsatz mit Rädern sowie Komponenten und Zubehör nach Erhebungen des ZIV insgesamt kontinuierlich zulegte, nämlich von drei Milliarden Euro im Jahre 2014 auf 4,5 Milliarden Euro vier Jahre später, stieg der Umsatz 2019 sprunghaft auf sieben Milliarden Euro und 2020 auf annähernd zehn Milliarden Euro. Die hohe Nachfrage betrifft alle Bereiche, sagt Marie Korzen, Sprecherin des Fahrradherstellers Cube. Seit dem Frühjahr letzten Jahres sei das Rad, egal ob klassisch oder mit E-Antrieb, generell deutlich stärker nachgefragt.

Die Gründe für den Fahrradboom sind vielfältig: Viele stiegen auf das Rad um, weil sie Angst von Ansteckung im öffentlichen Nahverkehr haben. Andere wollen sich im coronabedingten Lockdown an der frischen Luft bewegen und das Immunsystem stärken. Zudem sind in der Pandemie Radtouren in Deutschland statt Strandurlaub am Mittelmeer oder in der Karibik gefragt. Begünstigt durch den ersten Lockdown im Frühjahr 2020 stieg der Anteil des Internetversands auf 28 Prozent. Ein deutliches Umsatzplus, weit über das Geplante hinaus, habe man im vergangenen Jahr verzeichnen können, sagt Philipp Simon, Geschäftsführer vom Online-Versandhandel Bike Components. Intern sei man an logistische Grenzen gestoßen.

Die Nachfrage nach Fahrrädern, Zubehör und Reparaturen ist so hoch, dass es zu Engpässen kommt. In den Werkstätten kam und kommt es zu langen Wartezeiten. Die Händler hatten ihre Geschäfte im vergangenen Herbst annähernd leer verkauft. Für das laufende Jahr verfüge man zwar über gefüllte Lager, doch Engpässe sind nicht ausgeschlossen. Schon 2019 kam es innerhalb der globalisierten Lieferketten zu massiven Lieferengpässen, viele Fahrradhersteller sitzen in Fernost.

Engpässe, die sich seither nicht normalisiert haben, wie Urs Keller, Geschäftsführer des Fahrradherstellers Trek, sagt - und das, obwohl nach dem Corona-Lockdown in Asien schon seit knapp einem Jahr wieder voll produziert wird. Denn die Nachfrage ist in den letzten zwei Jahren nicht nur in Deutschland, sondern weltweit deutlich gestiegen, schon gibt es einen globalen Konkurrenzwettbewerb um Fahrradteile. Die Zulieferer kommen mit der Produktion einfach nicht hinterher. So könne es im Laufe dieses Jahres noch zu Lieferverzögerungen kommen, sagt Eisenberger. Die Versorgung mit Ersatzteilen sei aber gesichert.

"Da sind wir auf ein Umdenken beim Kunden angewiesen, gerade als kleiner Laden", sagt Domenikus Hefele, Mitinhaber des Fahrradgeschäfts "Hart am Rad" in Germering bei München, das seinen Kunden auf rund 70 Quadratmetern ein ausgesuchtes, hochwertiges Sortiment bietet. 30 bis 40 Räder passen in den Verkaufsraum. Er und sein Geschäftspartner Simon Mayer haben nicht den Platz, Radmodelle in allen Farben und Größen vorzuhalten. Wenn der Kunde ein bestimmtes Wunschmodell haben wolle, dann müsse er unter Umständen darauf warten - eben wie bei einem Auto. Weil gerade kleinere Läden davon abhängig sind, je nach Auftragslage beliefert zu werden, werden sie die Engpässe nach dem Lockdown besonders hart treffen.

Auch das Reparaturgeschäft läuft gut, die Werkstätten sind ausgebucht

Während sich große Händler Verkaufsräume und Lager vollstellen können, um nach den Öffnungen dem Andrang schnell gerecht zu werden und so die Ausfälle voraussichtlich weitgehend kompensieren können, wie das auch schon nach dem ersten Lockdown der Fall war, müssen kleine Händler anders planen. Hefele und Mayer sind froh, dass sie sich auf die Umsätze ihrer angegliederten Fahrradwerksatt verlassen können. Auch jetzt, im zweiten Lockdown, hält sie die Werkstatt über Wasser. In den nächsten vier Wochen seien sie mit Reparaturen ausgebucht.

Dass der Boom vorerst weitergeht, dafür spricht vieles: Zunehmende Nachfrage im Bereich Service und Fahrradleasing, großes Verbreitungspotenzial in neuen Segmenten wie dem der Lastenräder - etwa für Paketdienstleister, Innovationen im Bereich der Fahrassistenz- und Sicherheitssysteme, die ABS ermöglichen oder vor herannahendem Fahrzeugen warnen, aber auch eine zukünftige Radverkehrsvernetzung mittels 5G-Netz. "Bei all dem sollte man aber trotzdem nicht vergessen", sagt Eisenberger, "dass das Fahrrad gerade deshalb seit 200 Jahren so erfolgreich ist, weil es ein einfaches Produkt ist, und das sollte es auch bleiben."

Vor einem anderen Problem warnt der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) . Er begrüßt zwar, dass im Krisenjahr so viele Menschen neu aufs Rad gestiegen seien. Die Infrastruktur könne aber bei Weitem nicht mithalten, kritisiert Verkehrsexpertin Stephanie Krone in Berlin: "Die Radwegenetze waren schon vor der Krise katastrophal, deshalb verschärfen sich jetzt die Probleme bei zunehmendem Radverkehr."

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