Als Samira Djidjeh sich eines Mittags vor ihren Laptop setzte und Facebook aufrief, fand sie sich ihrer digitalen Identität beraubt. "Ich wurde plötzlich ausgeloggt und konnte nicht mehr auf mein Konto zugreifen", sagt die Digitalunternehmerin aus Baden-Württemberg. Facebook forderte sie auf, ihren Ausweis oder ein anderes offizielles Dokument hochzuladen, um ihr Alter zu bestätigen. Djidjeh ist seit zwölf Jahren bei Facebook angemeldet. Das Mindestalter ist 13. Djidjeh ist fast dreimal so alt.
"Für mich war das ein Schock", sagt sie. "Ich bin erste Vorsitzende der Digital Media Women und engagiere mich für die Sichtbarkeit von Frauen. Unsere Netzwerkarbeit basiert größtenteils auf Facebook, wir vernetzen dort 18 000 Menschen." Facebook kommentiert Einzelfälle nicht öffentlich, legt aber nahe, dass Djidjeh doch einfach ein Dokument hochladen solle, statt sich und dem Unternehmen wochenlang so viel Mühe zu machen.
Tatsächlich hat Facebook gute Gründe, Menschen nach ihrem Alter zu fragen. Ende Januar starb in Italien eine Zehnjährige, die sich selbst strangulierte, um andere Nutzerinnen und Nutzer auf Tiktok zu beeindrucken. Seitdem erhöhen Verbraucherschützer den Druck auf die Plattformen. Sie müssten sicherstellen, dass sich keine Kinder anmelden können.
"Kein Grund, keine Erklärung, nichts"
Doch Djidjeh sieht nicht ein, warum sie nach zwölf Jahren plötzlich Personalausweis oder Führerschein herzeigen soll. "Mich ärgert vor allem die Art und Weise, wie dieser Nachweis eingefordert wird. Kein Grund, keine Erklärung, nichts." Sie steht in Kontakt mit Facebook, erhält aber nach wie vor nur die Auskunft, dass sie ihr Alter verifizieren solle.
Ein übereifriger oder übervorsichtiger Algorithmus erkennt Anzeichen, dass Djidjeh zu jung sein könnte. Sie könnte ihr Alter nachweisen und bekäme ihr Konto zurück. Problem gelöst? So einfach ist es nicht. Denn zum einen können viele Menschen wohl gut nachvollziehen, warum Djidjeh unwohl dabei ist, Facebook neben all den Daten auch noch mit offiziellen Dokumenten zu füttern. Zum anderen sind ihre Erfahrungen kein Einzelfall: Immer wieder sperren große Plattformen Nutzerinnen und Nutzer ohne offensichtlichen Grund - und nur selten reicht es, einen Ausweis hochzuladen, um wieder auf das Konto zugreifen zu können.
Für die Betroffenen sind die Folgen oft dramatisch. Im vergangenen Jahrzehnt haben Milliarden Menschen ihr digitales Leben in die Hand weniger Tech-Konzerne gelegt. Über soziale Plattformen hält man Kontakt zu Familie und Freundinnen. Google speichert nicht nur private und berufliche E-Mails, sondern auch wichtige Dokumente, Fotos und Videos. Um sich an einem Rechner anzumelden, sind oft Microsoft- oder Apple-Konten nötig. Die meisten Menschen realisieren erst, wie abhängig sie sind, wenn es zu spät ist.
Das halbe Leben hängt am Google-Konto
Googles Support-Foren sind voll mit verzweifelten Nutzerinnen und Nutzern, die nicht mehr weiterwissen. Sie können Beschwerde einlegen, wissen aber gar nicht, was ihnen vorgeworfen wird. Teils trifft es Menschen, die sich seit 15 Jahren auf Gmail verlassen und von einem auf den anderen Tag den Zugriff auf alle Nachrichten verlieren. Vergangenes Jahr trug das IT-Portal Golem knapp 40 Fälle von Microsoft-Nutzerinnen und Nutzern zusammen, deren Konten ohne Vorwarnung gesperrt wurden.
Noch härter hat es Chris getroffen, der gegen Googles Richtlinien verstoßen haben soll, aber keine Ahnung hat, was er falsch gemacht haben könnte. Auf Twitter beklagt er sich, dass er neben E-Mails und Dokumenten auch den Zugriff auf Google Fi, Google Fiber und Google Pay verloren habe - und damit seinen Telefonvertrag, Internetzugang und die App, mit der er Schulden bezahle. Über Nacht habe ihn Google benachrichtigt, erzählt er. "Und als ich morgens aufgewacht bin, war alles weg." Er sei arbeitslos und sehe nun nicht mehr, wenn ein Unternehmen auf seine Bewerbung antworte.
Solche Schilderungen lassen sich schlecht überprüfen, da die angeblichen Opfer womöglich Aspekte verschweigen oder versehentlich gegen Richtlinien verstoßen haben. 2019 wurden etwa Hunderte Google-Konten vorübergehend gesperrt, nachdem die Nutzerinnen und Nutzer während eines Youtube-Livestreams allzu eifrig mit Emojis kommentiert hatten. Youtubes Algorithmus hatte den echten Enthusiasmus mit Spam verwechselt und die vermeintlichen Bots verbannt.
Wenn man mit Betroffenen spricht oder ihre Schilderungen auf Twitter, Reddit und anderen Plattformen liest, zeigt sich eine Gemeinsamkeit: Wie bei Kafkas Protagonisten Gregor Samsa kommt das Ereignis plötzlich und unerwartet - und wie in seinem "Prozess" mutet die Suche nach Erklärungen kafkaesk an. Die mächtigsten und reichsten Kommunikationsplattformen der Welt bieten kaum Kommunikationskanäle für Menschen, denen der Zugang zu dieser Infrastruktur verwehrt wird.
Manchmal hilft Öffentlichkeit: Ein Autor und Fotograf erhielt sein Apple-Konto zurück, nachdem er seine Funktion als IT-Chef des US-Portals Quartz nutzte, um seinen Fall dort zu schildern. Der Entwickler des Videospiels Terraria stritt sich mehr als einen Monat mit Google um seinen Account, den das Unternehmen blockiert hatte. Er drohte, das Spiel nicht wie geplant auf Googles Plattform Stadia zu veröffentlichen und hatte Ende Februar Erfolg. Sein Konto wurde entsperrt, Terraria erscheint nun doch.
"Ich werde mein Konto wohl nie zurückerhalten"
Die wenigsten Nutzerinnen und Nutzer besitzen solche Hebel. Sie können sich nicht wehren und haben oft das Gefühl, der Willkür der Algorithmen hilflos ausgeliefert zu sein. Einerseits drängen die Konzerne Menschen dazu, sich mit Haut, Haar und allen Daten in die geschlossenen Ökosysteme zu begeben.
Andererseits bieten sie kaum Unterstützung, Jahre oder Jahrzehnte des digitalen Lebens wiederzuerlangen, wenn man aus der Online-Welt ausgesperrt wird. Ob es sich um einen Irrtum der Plattformen oder einen Fehler der Betroffenen handelt, bleibt oft unklar: Der Grund für die Sperre wird erst gar nicht genannt.
Ob Djidjeh resigniert und ihren Ausweis hochlädt, hat sie noch nicht entschieden. Chris hat schon aufgegeben. "Ich werde mein Konto wohl nie zurückerhalten", sagt er. Doch er hoffe, dass sein Schicksal anderen eine Warnung sei. "Es ist so leicht, Jahre der Erinnerungen und Momente zu verlieren."