Süddeutsche Zeitung

Geldpolitik:Die EZB entscheidet am Bürger vorbei

Die Europäische Zentralbank könnte an diesem Donnerstag die Zinsen noch weiter drücken als bisher schon. Doch die Notenbank arbeitet mit veralteten Inflationszielen, das ist gefährlich.

Kommentar von Markus Zydra

Mario Draghi möchte die Geldschleusen der Notenbank an diesem Donnerstag noch einmal weit öffnen. Der Strafzins soll erhöht werden, um Banken zu zwingen, mehr Kredite zu vergeben. Sogar ein Neustart des Anleihekaufprogramms ist im Gespräch. Man fragt sich zu Recht, was das soll. Europas Wirtschaft schwächelt, aber eine Krise der Euro-Zone ist nicht in Sicht. Doch der scheidende EZB-Präsident verweist auf sein Mandat, das ihm keine andere Wahl ließe: Die Notenbank müsse für stabile Preise sorgen. Tatsächlich schreibt das der EU-Vertrag vor.

Nun ist es aber so, dass die Preise stabil sind. Die Geldentwertung ist niedrig. Im Juli lag die Inflationsrate im Euro-Raum bei einem Prozent. Im Januar waren es 1,4 Prozent, vor einem Jahr noch 2,1 Prozent. Die Inflation sinkt, und das ist gut, solange von einer womöglich gefährlichen Deflation nichts zu spüren ist. Warum greift die Notenbank trotzdem ein? Die EZB hat ein großes Problem.

Sie hält an altem Denken fest - und steuert daher in die falsche Richtung. Im Jahr 2003 beschloss der EZB-Rat, das Ziel der Geldwertstabilität zu konkretisieren. Seit damals möchte die Notenbank "die Inflationsrate auf mittlere Sicht unter, aber nahe zwei Prozent halten". Ja, so kompliziert klingt es, wenn Notenbanker Ziele haben. Was man unter "mittlere Sicht" versteht, ob drei oder 20 Jahre - wird nicht verraten. Ob "unter, aber nahe zwei Prozent" schon mit 1,6 Prozent zufriedenstellend erreicht ist oder erst bei 1,9 Prozent, das wird flexibel gehandhabt. Fest steht aber, dass die EZB meint, eine Teuerungsrate von einem Prozent sei zu niedrig.

Braucht die Euro-Zone also eine höhere Inflation, was Draghis Maßnahmen zumindest auf dem Papier rechtfertigen würde? Die Bevölkerung hegt da Zweifel. Das öffentliche Empfinden geht eher in die Richtung, dass bestimmte Dinge schon sehr teuer sind. Wohnen zum Beispiel, wobei dieser starke Anstieg der Immobilienpreise im Verbraucherpreisindex, an dem sich die EZB orientiert, noch nicht einmal ausreichend abgebildet ist.

Auch Wissenschaftler sind sich unsicher, ob das Inflationsziel von zwei Prozent, an dem sich seit den 1990er-Jahren weltweit fast alle Notenbanken orientieren, noch zeitgemäß ist. Die akademische Gemeinde steht wegen der global niedrigen Inflation vor einem Rätsel. Eigentlich hätte die Teuerungsrate in den westlichen Industriestaaten angesichts der lockersten Geldpolitik aller Zeiten rasant ansteigen müssen - doch die Realität folgte nicht den ökonomischen Lehrbüchern.

Die Notenbank fördert auch Preisblasen an den Immobilienmärkten

In der Debatte kursieren viele Erklärungen: Womöglich habe sich im globalen Wirtschaftssystem etwas grundlegend verändert, was den Preisdruck tendenziell hemmt, etwa weil die Menschen älter werden und mehr sparen. Oder bleiben die Preise niedrig, weil die Löhne, anders als früher, nicht mehr in dem Maße steigen, als dass sie die Teuerungsrate beschleunigen könnten? Die Experten grübeln darüber, was heute anders ist. Die akademische Unsicherheit spiegelt sich in der Geldpolitik der EZB nicht ausreichend wider. Die Notenbank hält robotergleich an dem Zwei-Prozent-Ziel fest, was der EZB-Rat jederzeit ändern könnte.

Draghi wollte an diesem Ziel nicht rütteln. Er fürchtete um die Glaubwürdigkeit der EZB an den Finanzmärkten. Aber er unterschätzte die Gefahr, dadurch die Glaubwürdigkeit der Institution im Rest der Gesellschaft zu verspielen. Der EZB droht ein Legitimationsdefizit. Durch ihre lockere Geldpolitik werden Reiche reicher, während der Großteil der Bevölkerung deutlich weniger profitiert. Die Strafzinsgeldpolitik widerspricht dem marktwirtschaftlichen Grundsatz, dass Kreditaufnahme durch einen angemessen Risikozins entschädigt werden sollte. Dadurch fördert die Notenbank Preisblasen an Immobilienmärkten und eine Zombifizierung der Wirtschaft, weil unproduktive Unternehmen weiterleben.

Die EZB sollte ihre Geldpolitik daher grundsätzlich überdenken. Das starre Inflationsziel ist nicht mehr haltbar. Die Notenbank darf nicht alles machen, nur um partout zwei Prozent Inflation zu erzwingen. Das ist unverantwortlich. Vielen Bürgern ist es bestimmt lieber, wenn die Preise nur 1,2 Prozent statt zwei Prozent steigen. Die geldpolitischen Maßnahmen via Leitzins und Anleihekäufe sind ausgereizt. Der Ankauf anderer Wertpapiere wie Aktien würde nur die Spekulationsblase antreiben. Die intellektuelle Herausforderung für Draghis Nachfolgerin Christine Lagarde besteht darin, diese notwendige Neuausrichtung der Geldpolitik zu moderieren. Europas Notenbank muss ihren Instrumentenkasten neu sortieren.

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SZ vom 12.09.2019/vd
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