Süddeutsche Zeitung

EZB-Präsident Draghi:Mario Draghi ist ein Retter, kein Zerstörer

Wegen der Niedrigzinsen wird der EZB-Chef heftig kritisiert. Dabei wäre der Euro ohne ihn gescheitert. Die Versäumnisse haben andere zu verantworten.

Kommentar von Cerstin Gammelin

Kaum jemals hat ein Notenbanker bei so vielen Deutschen so viel Skepsis hervorgerufen wie Mario Draghi. Der Präsident der Europäischen Zentralbank, dem die Bild-Zeitung bei seinem Amtsantritt noch eine Pickelhaube aufsetzte, weil er ihr als der preußischste aller Italiener galt, ist aus Sicht vieler Bundesbürger zu seinen Wurzeln zurückgekehrt. Um Italien und andere südländische Müßiggänger zu retten, so lautet die oft zu hörende Meinung, bringt er deutsche Sparer mit seiner Nullzinspolitik um wohlverdiente Erträge.

In dieser Woche beendet Draghi das fünfte Jahr seiner Amtszeit, drei weitere bleiben ihm noch. Das ist nicht besonders viel Zeit, um Kritiker zu überzeugen. Zu denen zählen die Wirtschaftsweisen der Bundesregierung, die an diesem Mittwoch ein Gutachten vorlegen, in dem sie Draghi auffordern, seine aus deutscher Sicht unkonventionelle Geldpolitik zu beenden. Die Ökonomie-Gutachter reihen sich ein in die Schlange von enttäuschten Sparern, verunsicherten Wutbürgern und populistischen Politikern, die alle vom Notenbankchef mehr oder weniger lautstark fordern, endlich aufzuhören, Staatsanleihen aufzukaufen und Konzerne zu finanzieren. Statt dessen sollen die Leitzinsen steigen, sollen wieder Regeln und Disziplin einkehren.

Dennoch: Dies ist eine seltsam verkürzte Debatte. Sie verschweigt, dass es gerade einem unkonventionellen Versprechen Draghis zu verdanken ist, dass es die Euro-Zone heute überhaupt noch gibt. Mit seinem Satz, er werde alles tun, was nötig ist, um die Währungsunion zu retten, beendete der Italiener 2012 alle Spekulationen um das baldige Ende des Euro. Ohne ihn wäre der Traum vom einigen Europa mit einer gemeinsamen Währung vorzeitig geplatzt.

Außerdem kann man Draghi nicht vorwerfen, was nationale Regierungen versäumen. In einer idealen Euro-Welt hätten die Euro-Staaten längst alles Nötige unternommen, um die Währung zu sichern. Dazu gehören strukturelle Reformen in den Ländern, aber auch Programme, um das Wachstum anzukurbeln. Und schließlich geht es um die existenzielle Entscheidung, ob der Währungsverbund um eine echte Steuer- und Sozialunion erweitert werden soll, die eines Tages in die Vereinigten Staaten von Europa münden könnte - oder ob man lieber einen kleineren Währungsverbund haben und zum Europa der Nationalstaaten zurückkehren will.

Vieles, was politisch nötig wäre, geschieht nicht. Genau das hat Draghi zum Getriebenen gemacht, der eine Maßnahme nach der nächsten ergreift, um zu verhindern, dass die Euro-Zone zerfällt. Angesichts der in etlichen Ländern anstehenden Referenden und Wahlen ist absehbar, dass der Notenbankchef auch weiterhin nur auf wenig politische Unterstützung bauen kann. Trotzdem darf er sich nicht von der Kritik beirren lassen. Er muss die Politik der niedrigen Zinsen so lange fortsetzen, bis sich die jetzt sichtbaren ersten Erfolge (die Inflationsrate steigt) so weit stabilisiert haben, dass er damit beginnen kann, die Zinswende zu organisieren. Ob er selbst noch die Zinsen erhöht oder sein Nachfolger, ist zweitrangig.

Mindestens genauso wichtig ist, dass er die Regierungen davon überzeugt, zu handeln. Noch ist die Euro-Zone nicht stabil genug. Sie kann es nur werden, wenn sich die Europäer einigen, wie ihre Zukunft aussehen soll - Bundesstaat oder Staatenbund, Kerneuropa oder weites Euro-Geflecht.

Weil die politische Trägheit manchmal so groß ist, wäre es gut, wenn Draghi selbst einen Nachfolger aufbauen könnte, der seine Politik fortsetzt. Derzeit rangeln Deutsche und Franzosen um die Nachfolge. Dies mag dazu führen, dass sich die mächtigsten Euro-Staaten am Ende gegenseitig blockieren. Würde aber Draghi selbst einen geeigneten Kandidaten präsentieren, hätte die Euro-Zone ein Problem weniger.

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Quelle:
SZ vom 02.11.2016
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