Der Ärger über Nullzinsen ist in Deutschland zum großen Aufreger geworden. Fernsehtalkshows und Podiumsdiskussionen monieren, Mario Draghi hätte als EZB-Chef die deutschen Sparer mit seiner Zinspolitik bestraft, die Deutschen hätten Milliarden verloren. Ökonomen versuchen nun, diese verbreitete Sicht als eindimensional zu entlarven.
"Das Bashing der Europäischen Zentralbank ist so populär, dass es eine sachliche Analyse fast unmöglich macht", klagt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Für Fratzscher rettete die EZB den Euro und verhinderte so eine schwere Krise - stattdessen entstanden in Deutschland Millionen Jobs. Und: Negative reale Zinsen erleben Sparer nicht nur heute. Es gab sie ab den 1970er- Jahren auch in jedem dritten D-Mark-Jahr. Moritz Schularick von der Universität Bonn rät, den Blick über die Grenzen schweifen zu lassen: "Niedrigzinsen sind ein globales Phänomen." Die Suche nach den Ursachen für dieses Phänomen führt zu den langfristigen Trends unserer Zeit wie Globalisierung, Digitalisierung und Alterung - und zu der Rolle, die die Politik spielt.
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Frankreichs Wirtschafts-und Finanzminister über den Anspruch seines Landes, Europa wachzurütteln, den Brexit als "kollektiven Selbstmord" und die Frage, warum mangelnde deutsche Investitionen eine neue Krise auslösen könnten.
Zehnjährige Staatsanleihen rentieren nicht nur in Euro-Staaten wie Deutschland oder Frankreich negativ, sondern beispielsweise auch in Japan. In Großbritannien werfen die Papiere ein halbes Prozent ab. Die Finanzmärkte sind das Pferd, die Zentralbanken der Karren, den das Pferd zieht, analysiert Neil Irwin in der New York Times. "Die Zentralbanken der Industriestaaten versuchen lediglich, ihre Geldpolitik an die ökonomischen Realitäten anzupassen: Alternde Gesellschaften, eine Schwemme an Ersparnissen und schwache Produktivität, die Wachstum und Inflation beständig nach unten drücken."
Es sind mächtige Trends, die auf den Sparer wirken. Die reifen Volkswirtschaften der Industriestaaten wachsen seit Langem schwächer, was mit niedrigeren Zinsen einhergeht als früher. Außerdem bewirkt die Globalisierung, dass sowohl Unternehmen weltweit miteinander konkurrieren als auch Arbeitnehmer. Dieser immer flächendeckendere Wettbewerb hält die Produktpreise und die Löhne niedrig. Damit bleibt die Inflation niedrig. Und daher fallen die nominalen Zinsen inklusive Inflation niedriger aus, an denen sich Sparer oft orientieren.
Gleichzeitig erhöhen geringe Preissteigerungen die Gefahr, dass eine Konjunkturkrise in fallende Preise umkippt, was in der Depression der 1930er-Jahre ganze Volkswirtschaften lähmte. Weshalb die Notenbanken präventiv gegenhalten, indem sie Leitzinsen senken und Staatspapiere kaufen.
Ja, die Zentralbanken drücken die Zinsen, sagt Makroökonom Schularick, etwa durch Ankaufprogramme für Staatsanleihen. "Aber der Einfluss, den das zu hohe Kapitalangebot auf die Zinsen ausübt, ist wichtiger." Um die internationalen Magerrenditen zu begreifen, hilft es sehr, den Zins als Preis zu verstehen - der auch aus Angebot und Nachfrage nach Kapital resultiert. Einiges spricht dafür, dass die Nachfrage nach Kapital durch den Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft nachlässt. Und dann noch mal durch die Digitalisierung.
Wer früher eine Großfirma aufbauen wollte, musste eine Fabrik bauen. Heute reicht es, an ein paar PCs ein digitales Geschäftsmodell zu entwickeln. Whatsapp brauchte kaum Maschinen, um für Investoren Milliarden wert zu werden. Die Digitalisierung bedeutet zudem, dass der Kapitalstock öfter eher ausgetauscht als durch zusätzliche Produkte aufgestockt wird wie in früheren Phasen der Industrialisierung.
Und das Ergebnis? Insgesamt begrenzen solche Entwicklungen die Nachfrage nach Kapital. Das Angebot an Kapital in Form von Ersparnissen dagegen nimmt zu, argumentieren zahlreiche Ökonomen. Wenn aber das Angebot nach etwas zunimmt und die Nachfrage höchstens stagniert, fällt gewöhnlich der Preis - in diesem Fall: Die Zinsen. Damit wären nicht mehr vorrangig Notenbanken wie die EZB für die niedrigen Zinsen verantwortlich, sondern global wirkende Faktoren.
Wie genau das Angebot an Kapital zu-nimmt, darüber diskutieren Volkswirte gerade intensiv. Manche verweisen auf die international gestiegenen Firmengewinne. Die verwandeln sich in Ersparnis, sofern die Unternehmen nicht investieren. Hagen Krämer von der Hochschule Karlsruhe weist auf die Demografie hin. "Die Menschen werden immer älter, brauchen länger Rente und sparen mehr als früher, auch über private Altersvorsorge", so Krämer, der mit Carl Christian von Weizsäcker das Buch "Sparen und Investieren im 21. Jahrhundert" vorgelegt hat.
Andere Fachleute halten dagegen, die Sparquote privater Haushalte sei etwa in Deutschland nicht relevant gestiegen. Krämer argumentiert, dass dies noch kommen könne. Und: Die Demografie schlage sich bereits nieder, und zwar vor allem im Zwangssparen über höhere Beiträge in die gesetzliche Rentenkasse: "Fast die Hälfte des privaten Vermögens in den OECD-Ländern sind Renten-Ansprüche an den Staat, die aus Beiträgen in die Rentenkasse folgen".
Ein immer stärkerer Anteil der Einkommen geht an die oberen zehn Prozent
Moritz Schularick führt vor allem die zu-nehmende Ungleichheit als Grund an. "Ein immer stärkerer Anteil der Einkommen geht in vielen Ländern an die oberen zehn Prozent". Die aber sparen einen größeren Teil ihres Verdiensts als Mittel- oder Geringverdiener, die oft eher schauen müssen, wie sie Konsumbedarf und Miete decken.
"Die ärmere Hälfte der Amerikaner spart so gut wie gar nicht", sagt Schularick. Auch die massiv gestiegenen Aktienkurse und Immobilienpreise kommen vor allem reicheren Bürgern zugute. Und die sparen aus diesen Erträgen überproportional viel an, vergleicht man es mit der durchschnittlichen Konsumneigung der Bevölkerung.
Es gibt in jedem Fall viele Gründe, warum das Sparen und damit das Angebot an Kapital zunimmt - die Nachfrage aber eher nicht. Dieser Mechanismus drückt die Zinsen, unabhängig vom Handeln etwa der Europäischen Zentralbank.
Bemerkenswert ist das Argument, dass die Politik selbst eine Rolle spielt. Moritz Schularick: "Die öffentliche Hand hat weniger investiert" - und damit wenig Kapital nachgefragt. Besonders evident ist das in Deutschland, wo die staatlichen Investitionen seit Längerem durch das Ziel gebremst werden, keine neuen Schulden zu machen. Wenn der Staat sich dagegen zu den gerade besonders niedrigen Zinsen verschuldet, um zu investieren oder Sozialsysteme wie die Rentenversicherung durch Zuschüsse zu stützen, fragt er Kapital nach.
"Wenn sich der Staat verschulden würde, gäbe es Nachfrage nach dem gestiegenen Sparangebot", wirbt Hagen Krämer. Gerade wer wie Deutschland Leistungsbilanzüberschüsse erwirtschafte, müsse sich mehr verschulden. Was die Zinsen tendenziell nach oben treiben würde. Zum Vorteil der traditionellen Sparer, die auf Zinsanlagen schwören, statt zu ihrem eigenen Vorteil auf die generell renditestärkeren Aktien oder Immobilien zu setzen. Investitionen, stabilere Sozialsysteme und glücklichere Sparer - eine interessante Kombination.