Die Europäische Zentralbank hat angesichts sinkender Inflation und schwachen Wirtschaftswachstums zum dritten Mal in diesem Jahr die Leitzinsen gesenkt. „Alle Informationen, die wir in den letzten Wochen erhalten haben, deuteten in dieselbe Richtung: nach unten“, sagte EZB-Präsidentin Christine Lagarde am Donnerstag nach der einstimmigen Entscheidung, die der EZB-Rat dieses Mal in slowenischen Hauptstadt Ljubljana getroffen hat. „Haben wir der Inflation das Genick gebrochen – nein, noch nicht“, sagte Lagarde. „Aber wir sind auf dem richtigen Weg und werden es schaffen.“
Ob die Zinsen demnächst noch mehr sinken würden, ließ Lagarde offen. „Wir werden weiterhin einen datenabhängigen Ansatz verfolgen“, sagte die EZB-Chefin. Man werde von Sitzung zu Sitzung entscheiden. „Wir legen uns nicht im Voraus auf einen bestimmten Zinspfad fest“, fügte Lagarde hinzu.
Der für die Geldpolitik richtungsweisende Einlagenzinssatz liegt jetzt bei 3,25 Prozent – das sind 0,25 Prozentpunkte weniger als bislang. Die Entscheidung der Währungshüter erfolgte am selben Tag, als die europäische Statistikbehörde Eurostat die Inflationsrate für September nach unten auf 1,7 Prozent korrigierte. Das ist die niedrigste Rate in der Eurozone seit April 2021. In seiner ersten Schätzung war das Amt noch von 1,8 Prozent ausgegangen. In Deutschland lag die Inflation im September bei 1,6 Prozent. Die Kerninflation in der Eurozone, bei deren Berechnung schwankungsanfällige Preise für Energie und Nahrungsmittel herausgerechnet werden, liegt hingegen höher. Sie sank im September nur leicht um 0,1 Prozentpunkte auf 2,7 Prozent.
Zwar erwarten Notenbanker, dass die Inflation bis Jahresende noch einmal steigen könnte. Doch insgesamt kommt die EZB ihrem Ziel näher, die Inflation bei zwei Prozent zu fixieren. Inzwischen schwächt sich die Konjunktur in der Eurozone empfindlich ab, Deutschland als größte Volkswirtschaft der Währungsunion droht 2024 erneut eine Rezession. „Die neuesten Daten deuten auf ein schleppendes Wachstum hin“, sagte Lagarde. Eine Rezession erwarte sie aber nicht. Die Notenbank möchte verhindern, dass die Wirtschaft abschmiert und Arbeitsplätze verloren gehen. Bislang liegt die Arbeitslosenrate in der Währungsunion mit 6,4 Prozent so tief wie noch nie in der Geschichte der Eurozone.
„Die EZB drückt leicht aufs Tempo bei den Zinssenkungen. Sie zollt damit der enttäuschenden Konjunkturentwicklung im Euroraum und in Deutschland Tribut“, sagte Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Dekabank. Kreditkonditionen, etwa bei Hypothekenkrediten, würden kaum noch sinken, da Banken die Entwicklung bei den Leitzinsen bereits Monate im Voraus vorweggenommen hätten.
Es gibt noch immer eine Rest-Unsicherheit, ob die Inflation besiegt ist
Der Preisschub der vergangenen Jahre kam vor allem durch Produktions- und Lieferstopps während der Corona-Pandemie zustande. Dieser Effekt wurde später verstärkt durch den Einmarsch Russlands in die Ukraine, da Güter und Rohstoffe knapp waren. Verbraucher mussten für Lebensmittel und Energie deutlich mehr bezahlen. 2022 stieg die Inflation zeitweise über zehn Prozent. In der Folge forderten Gewerkschaften hohe Lohnsteigerungen, was den Preisdruck aufrechterhielt. Erst im Juli 2022 beendete die EZB ihre jahrelange Null- und Negativzinspolitik, um die auf Rekordhöhe gestiegene Inflation in den Griff zu bekommen. Zehnmal in Folge erhöhte die Notenbank die Zinsen, ehe sie eine Pause einlegte und im Juni mit der ersten Leitzinssenkung die Zinswende einleitete.
Einige Experten fordern nun noch stärkere Zinssenkungen: „Angesichts der Verzögerung, mit der die Geldpolitik wirkt, und der anhaltenden Wirtschaftsschwäche, ist es höchste Zeit, die geldpolitische Restriktion zu beenden. Davon ist die EZB aber noch weit entfernt und die Zinsen werden selbst nach der für Dezember zu erwartenden Leitzinssenkung auf drei Prozent die Wirtschaftsentwicklung weiter bremsen“, sagt Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung.
Andere sind unsicher, ob die Inflation besiegt ist. Einige Wirtschaftsexperten erwarten auch künftig zu hohe Inflationsraten, so eine Umfrage des Münchner Ifo-Instituts unter rund 1500 Fachleuten aus 119 Ländern. Demnach werden in Deutschland dieses Jahr 2,4 Prozent erwartet, in der Eurozone 2,6 Prozent, in Nordamerika 2,7 Prozent und weltweit 4,0 Prozent. Aufgrund dieser stagnierenden Inflationserwartungen könnten sich die Zentralbanken mit weiteren Zinssenkungen zurückhalten, so deren Meinung.
Die Leitzinssenkung der EZB könnte auch die Aktienmärkte weiter beflügeln. Der deutsche Leitindex Dax hatte am Dienstag mit 19630 Punkten ein weiteres Rekordhoch erreicht und notierte nach der Zinsentscheidung am Donnerstag 0,7 Prozent im Plus bei 19559 Punkten.