Geldpolitik:Eine Entscheidung mit Bauchgefühl

Sitz der EZB in Frankfurt

Ökonomen erwarten, dass die Zentralbank ihren Einlagenzins um 0,75 Prozentpunkte auf 1,5 Prozent anheben wird.

(Foto: Arne Dedert/picture alliance/dpa)

Die Regierungen der Europäischen Union kritisieren den Kurs der EZB. Trotzdem wird sie wohl am Donnerstag beschließen, den Leitzins weiter anzuheben. Das liegt auch am Misstrauen der Verbraucher.

Von Markus Zydra, Frankfurt

Nachdem die althergebrachten mathematischen Modelle zur Inflationsprognose die reale Preisexplosion immer weniger antizipieren konnten, bewies Christine Lagarde, die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), ihre intellektuelle Beweglichkeit und stellte fest: "Wir folgen nicht nur der Wissenschaft. Unsere Arbeit hat auch etwas mit Kunst zu tun." Das bedeutet: Die Französin und ihre Notenbankkolleginnen und -kollegen möchten in der Geldpolitik nicht mehr nur den Wirtschaftsdaten folgen, sondern auch einer Art begründeter Inspiration, was der Volksmund als Bauchgefühl beschreiben würde.

Die Lage ist misslich: Einerseits steigen die Preise wie noch nie in der Geschichte der Währungsunion. Im September lag die jährliche Inflationsrate im Euro-Raum bei 9,9 Prozent. Andererseits ist die Inflation nicht Ausdruck einer überhitzten Wirtschaft, wie man das sonst aus den Lehrbüchern kennt. Die hohen Preise sind eine Verquickung exzeptioneller Ereignisse infolge der Corona-Pandemie und des russischen Einmarsches in der Ukraine. Machen starke Leitzinserhöhungen die Lage nicht nur schlimmer?

Die Politik mischt sich ein: Italiens neue Ministerpräsidentin Giorgia Meloni kritisierte in ihrer ersten Parlamentsrede, die Zinserhöhung im Juli - die erste der Notenbank seit elf Jahren - sei "eine Entscheidung, die viele als gefährlich betrachteten und die riskiert, die Bankkredite an Familien und Unternehmen zu treffen". Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron warnte jüngst, die Notenbank müsse mit den Zinserhöhungen sehr vorsichtig sein. Der Preisanstieg in Europa sei vor allem durch externe Faktoren verursacht worden und habe nichts mit zu hohen Ausgaben der Verbraucher zu tun.

Trotz der Kritik aus den EU-Regierungen wird die EZB ihren Kurs wohl fortsetzen

Dennoch wird der EZB-Rat bei seiner Sitzung am Donnerstag wohl seinen Kurs fortsetzen und die Kreditaufnahme weiter verteuern. Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, prognostiziert: "Wir erwarten, dass die Notenbank den Einlagenzins um 0,75 Prozentpunkte auf dann 1,5 Prozent anhebt. Bis Anfang 2023 wird die Notenbank den Satz auf 2,25 Prozent erhöhen." Krämer halte es sogar für besser, den Leitzins bis auf vier Prozent anzuheben. Nur so könne man die "Inflationserwartungen der Menschen einfangen".

Inflationserwartungen - das Zauberwort. Es geht um die Gefahr, dass die Menschen glauben, die Preise würden auch künftig stark steigen. Dirk Schumacher, Chefvolkswirt der französischen Investmentbank Natixis sagt: "Es geht der EZB um die Inflationserwartungen. Dass die Zinserhöhungen die Inflation schnell senken, das glaubt sowieso niemand." Um diese Zweifel auszuräumen, müsse die EZB handeln und den Leitzins weiter erhöhen.

Geldpolitik: Die EZB-Präsidentin Christine Lagarde steht auch unter dem Druck der Verbraucherinnen und Verbraucher.

Die EZB-Präsidentin Christine Lagarde steht auch unter dem Druck der Verbraucherinnen und Verbraucher.

(Foto: Political-Moments/Imago)

Tatsächlich zeigt eine EZB-Umfrage vom August, dass Europas Verbraucherinnen und Verbraucher selbst in drei Jahren noch eine Inflation von drei Prozent erwarten. Damit würde die EZB ihr Ziel von zwei Prozent weiter verfehlen. "Die Glaubwürdigkeit der Währungshüter ist das Thema. Sie wollen zeigen, dass sie ihr Mandat ernst nehmen", sagt Schumacher. "Vertrauen die Menschen der Notenbank, sprich, erwarten sie, dass die Inflation wieder sinkt, dann muss sie die Zinsen nicht so stark anheben. Bei zunehmendem Misstrauen müssen die Währungshüter die Zinsen stärker erhöhen und eine Rezession in Kauf nehmen", sagt der Ökonom. Da sei viel Psychologie im Spiel.

Und was ist mit der Befürchtung von Meloni und Macron, allzu hohe Zinsen - wo immer die begännen - könnten die Rezession verschlimmern? "Je schneller die Notenbank hart durchgreift, desto weniger schaden die höheren Zinsen der Wirtschaft", meint Commerzbank-Chefvolkswirt Krämer. Die Hauptbelastung für die Wirtschaft sei sowieso nicht die Zinserhöhung, sondern die Energieknappheit. Unternehmen würden die Produktion runterfahren, weil es sich nicht mehr rechne. "Gleichzeitig ist die Arbeitslosenrate im Euro-Raum so niedrig wie nie zuvor in der Geschichte, und es gibt einen Arbeitskraftmangel, wie man ihn selbst zu Zeiten des Wirtschaftsbooms nicht gesehen hat", sagt Krämer.

Europas Banken bekommen praktisch Geld von der Zentralbank geschenkt

Der EZB-Rat wird sich am Donnerstag auch mit Europas Banken beschäftigen. Die Notenbank hatte dem Sektor als Reaktion auf die Covid-Krise subventionierte Kredite in Höhe von 2,2 Billionen Euro vergeben. Dieses Kreditprogramm, mit dem Namen TLTRO 3, hat einen Nebeneffekt: Die Institute bekommen Geld quasi geschenkt. Wenn sich eine Bank von der EZB eine Million Euro leiht, braucht sie nach Ablauf der Laufzeit nur 990 000 Euro zurückzahlen. Ein Prozent der Kreditsumme darf sie behalten.

Nun, da die Leitzinsen steigen, wird das Geschäft für die Banken noch viel lukrativer. Europas Geldhäuser können überschüssige Liquidität aus dem TLTRO-Kreditprogramm bei der EZB parken und 0,75 Prozent Zins kassieren - ohne das unternehmerische Risiko einer Kreditvergabe eingehen zu müssen. Damit soll nun Schluss sein: "Die EZB wird die risikolosen Profite für die Banken aus den TLTRO-Geschäften beschränken. Das ist notwendig, denn es geht da für die Branche insgesamt schnell um 100 Milliarden Euro Profit", sagt der Volkswirt Schumacher. Dazu müssten die Regeln zwar verändert werden: "Aber welche Bank wird die EZB verklagen wollen?"

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