Süddeutsche Zeitung

EZB:Lagardes großes Tabu

Europas Notenbank könnte den Euro-Staaten dereinst die Schulden erlassen. In der Wissenschaft ist das ein heißes Thema. Die EZB will davon nichts wissen, weil ihr die Staatsfinanzierung verboten ist. Aber was, wenn es ernst wird?

Von Markus Zydra

Die Tagesordnungspunkte für das Notenbankertreffen am Donnerstag dürften feststehen. Die Europäische Zentralbank wird über die Euro-Stärke debattieren, und in der Pressekonferenz könnte EZB-Präsidentin Christine Lagarde weitere Milliarden in Aussicht stellen - eine typische Themenmelange für eine Notenbank im Krisenmodus. Dabei gäbe es ein viel grundsätzlicheres Sujet, über das die 25 Mitglieder im obersten Entscheidungsgremium der EZB trefflich streiten könnten: nämlich, ob überhaupt, und wenn ja, wie man dereinst den Euro-Staaten Schulden erlässt.

Dieses Thema ist ein großes Tabu, obwohl es bei den Treffen stets mitschwingt. Die Angelsachsen sprechen vom "Elephant in the room" und bezeichnen damit ein offensichtliches Problem, das im Raum steht, aber von den Anwesenden nicht angesprochen wird.

Es gibt kaum noch Menschen, die wirklich erwarten, dass die Mitgliedsstaaten der Euro-Zone ihre Schulden jemals werden begleichen können. Die Verbindlichkeiten sind durch die Rettungsmaßnahmen in der Corona-Krise noch einmal enorm angestiegen; die Schulden liegen höher als vor der Finanzkrise 2008. Deshalb kauft die EZB mit ihren Billionen die Schuldscheine der Staaten auf. Die Notenbank hält inzwischen 28 Prozent der ausstehenden Staatsschulden in der Euro-Zone, das entspricht 55 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Europa schlägt offensichtlich den japanischen Weg ein. Dort hält die Bank of Japan bereits 50 Prozent der Staatsschulden oder 128 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung. In den Bilanzen der Währungshüter sind die Verbindlichkeiten gut aufgehoben, sie schmerzen niemanden. Politiker können so tun, als ob das Geld auf den Bäumen wächst. Vielleicht, so denken manche Volksvertreter, wird die Notenbank im Ernstfall die Schulden einfach verschwinden lassen, nach dem Motto: Vergeben und vergessen.

Der EZB ist die Staatsfinanzierung gesetzlich verboten, aber die Suche nach einem Ausweg läuft. Stellvertretend für die große geldpolitische Debatte schreibt der Ökonom Paul De Grauwe in einem aktuellen Aufsatz des Wissenschaftsportals VoxEU, dass eine Staatsfinanzierung durch die Notenbanken wohl "unausweichlich ist, angesichts des wirtschaftlichen Abschwungs in der Euro-Zone". Der EU-Vertrag verbiete der EZB zwar die Staatsfinanzierung via Kredit, doch eine Überweisung in Form einer Schenkung sei womöglich rechtens.

Auch andere Finanzwissenschaftler diskutieren bereits, wie die EZB die Schulden verschwinden lassen könnte. Ein origineller Vorschlag: Man wandelt die zu einem bestimmten Zeitpunkt fälligen Staatsschulden in zinslose "ewige Anleihen". Die Verbindlichkeiten könnten dann zeitlich endlos in der Bilanz der EZB versenkt werden. Niemand müsste sie bedienen, alle würden sie vergessen. Eine Idee, die das noch toppt, lautet: Die EZB erlässt, also streicht die Staatsschulden. Einfach weg damit, vielleicht noch an ein paar politische Bedingungen geknüpft.

All das führt zu der Frage, wie lange die Notenbank ohne Vertrauensverlust Geld an Staaten und Bürger verschenken könnte. Stichwort "Helikoptergeld", das der frühere EZB-Präsident Mario Draghi als "interessantes Konzept" bezeichnet hat. Helikoptergeld und Schuldenerlass wären ein Thema, bei dem die Menschen besser mitreden könnten als beim üblichen Notenbank-Gesumsel. Ob sich Lagarde und Kollegen einen Ruck geben? Der Elefant im Raum müsste nur einmal laut trompeten.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5022349
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 07.09.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.