EZB:"Jeden Stein umdrehen"

Europas Zentralbank braucht eine neue, womöglich grüne Geldpolitik. Auch die Bürger dürfen Vorschläge machen. Die Präsidentin Christine Lagarde verspricht: Man wolle zuhören und lernen.

Von Markus Zydra, Frankfurt

Christine Lagarde möchte "jeden Stein umdrehen". Mit diesen Worten eröffnete die Präsidentin der Europäischen Zentralbank am Montag die große gesellschaftliche Debatte über die künftige Strategie der EZB. Das Motto: "Die EZB hört zu" - in den nächsten Wochen stellen sich die Währungshüter der Zivilgesellschaft. Lagarde möchte im Gespräch mit Gewerkschaften, Politikern, NGOs und Kritikern zuhören und lernen. Rund 3000 Vorschläge aus der europäischen Bevölkerung sind bei der EZB schon eingegangen, sie alle würden berücksichtigt in der Entscheidung über die Geldpolitik der Zukunft.

Lagarde machte deutlich, dass der Klimawandel die Geldpolitik der EZB verändern wird. "Überschwemmungen, Brände und Stürme erhöhen die wirtschaftlichen Schwankungen", sagte die frühere französische Finanzministerin zur Eröffnung der Notenbank-Konferenz. Durch diese höhere Volatilität würde es für die EZB schwerer, für stabile Preise zu sorgen. Naturkatastrophen, so die Annahme, können bestimmte Produkte verknappen, was zu unvorhergesehenen Preisausschlägen führt.

Die Umweltschutzorganisation Greenpeace forderte am Montag eine grüne Geldpolitik. Die EZB solle künftig nur Anleihen von Unternehmen kaufen, deren Produkte eine saubere Umweltbilanz aufweisen. Bislang, so die Kritik, investiere die Notenbank vor allem in fossile Energien. Lagarde hat angedeutet, dass es zu entsprechenden Veränderungen komme könnte. Das würde bedeuten, dass die Notenbank grüne Anleihen bevorzugt erwirbt, was bislang unter dem Regime der "Marktneutralität" nicht möglich ist.

Nullzinsen haben das Verhältnis zu Teilen der Gesellschaft zerrüttet

Das Angebot an die Bürger, Impulse zu geben, ist der immer wichtigeren Rolle der EZB bei der Bewältigung wirtschaftlicher Krisen geschuldet. Die Währungshüter haben durch den Ankauf von Staats- und Unternehmensanleihen Billionen Euro in die Finanzwirtschaft gepumpt, um die Euro-Schuldenkrise und aktuell die Folgen der Corona-Krise zu bekämpfen. Doch die lockere Geldpolitik der letzten Jahre, in denen die EZB auch das Nullzinsregime einführte, hat das Verhältnis zwischen den Technokraten im Eurotower und Teilen der Gesellschaft zerrüttet. Europas Notenbank muss sich deshalb gegenüber der Öffentlichkeit besser erklären, vor allem auch weil die Nullzinspolitik den vermögenden Menschen mit Aktien- und Immobilienbesitz mehr nutzt als den Kleinverdienern. Die Frage der Legitimation dieser Maßnahmen steht im Raum.

Lagarde möchte diese Entfremdung von den Menschen auflösen, auch durch eine bessere Kommunikation. Die Sprache der Notenbank ist bislang rein ökonomisch geprägt. Ihre Vorgänger Duisenberg, Trichet und Draghi schienen vor allem mit den Finanzmärkten zu kommunizieren. Die in Reden verwendeten Fachtermini und die detaillierte Beschreibung der komplexen geldpolitischen Zusammenhänge sind bisher mitunter auch interessierten Laien kaum verständlich.

Die EZB denkt auch über ein neues Inflationsziel nach. Das im Jahr 2003 formulierte Ziel, die Teuerungsraten im Euroraum bei "unter aber nahe zwei Prozent" zu fixieren, erreicht sie schon lange nicht mehr. Aktuell fallen die von Eurostat offiziell gemessenen Preise sogar, im August um 0,2 Prozent. Das ist zum einen peinlich: Die mächtige Notenbank scheitert an den eigenen Ansprüchen. Zum anderen fragen sich viele Menschen: Was ist daran so schlimm? Null Prozent Inflation seien doch besser als zwei Prozent. Auch darüber wird der EZB-Rat debattieren. "Wir sollten ein Inflationsziel haben, das glaubwürdig ist und das die Öffentlichkeit leicht verstehen kann", sagte Lagarde. Künftig könne die Notenbank die Zeiten mit besonders niedriger Inflation dadurch ausgleichen, dass sie zeitweise höhere Inflationsraten akzeptiere. Auch diese Idee dürfte zu scharfen Debatten im EZB-Rat führen. Im nächsten Jahr soll die neue Strategie stehen.

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