Die Europäische Zentralbank möchte künftig höhere Inflationsraten tolerieren. Ja, richtig gelesen. Die Hüter stabiler Preise geben sich plötzlich kulant. Sollten die Preise in der Euro-Zone eine Zeit lang auf drei Prozent klettern? Kein großes Problem mehr, cool bleiben. Mit ihrer Entscheidung hat die Institution auch schon die derzeitigen Preissprünge in ihre neue Strategie integriert. In Deutschland liegt die Inflationsrate bei 2,3 Prozent, sie könnte im Jahresverlauf bis auf vier Prozent klettern. Die einkommensschwachen Haushalte leiden besonders darunter, weil Lebensmittel, Energie und Wohnen teurer wurden. Da kommt jetzt die Notenbank und lässt die Inflation noch mehr von der Leine?
Das ist schwer vermittelbar, gerade nach einer langen Phase, in der die Inflationsraten zwischen null und einem Prozent eigentlich ganz stabil waren, doch die EZB mit ihrer Nullzinspolitik unbedingt ihr Inflationsziel von "unter, aber nahe zwei Prozent" erreichen wollte. Die Zentralbank gibt ein komisches Bild ab: Jahrelang taten die Währungshüter alles, um höhere Preise erzwingen - was an einen imaginären Umweltminister erinnert, der sich für Giftausstoß starkmacht. Jetzt schließt die EZB auch noch Frieden mit höheren Inflationsraten.
Doch wie so oft gilt: Es gibt neben den Risiken auch gute Gründe für diese Entscheidung. Der wichtigste Vorteil der neuen Strategie ist der größere Spielraum bei der Inflationsbekämpfung. Der erlaubt es der EZB, die lockere Geldpolitik noch länger fortzusetzen, ohne in Erklärungsnöte zu kommen. Eine EZB der 2000er-Jahre hätte aktuell bei zwei Prozent Inflation bestimmt damit begonnen, ihre Geldpolitik zu straffen. Doch nach der globalen Finanzkrise 2008 und der folgenden Euro-Staatsschuldenkrise musste die Notenbank mehr tun, als die Zinsen zu senken. Sie rettete durch Anleihekäufe das Überleben der Euro-Zone. Der berühmte Schlachtruf damals: "Whatever it takes".
Gute Geldpolitik kann allen Menschen helfen - aber nicht allen gleichermaßen
Auch die jüngsten geldpolitischen Reaktionen auf die wirtschaftlichen Konsequenzen der Corona-Pandemie machten deutlich, dass der EZB-Rat um Christine Lagarde mehr macht als klassische Notenbankpolitik. Die EZB und andere große Notenbanken sind angesichts der inhärenten Instabilität des globalen Finanzsystems zum Garanten für das Überleben des modernen Kapitalismus geworden, meint der Ökonom Joscha Wullweber zu Recht in seinem Buch "Zentralbankkapitalismus": Die EZB muss durch ihre Anleihekäufe die Zinsen niedrig halten, sonst drohen Unternehmenspleiten, Kreditklemmen für Euro-Staaten und eine erneute Finanzkrise. Macht die EZB hier ihren Job gut, hilft das allen.
Doch die lockere Geldpolitik birgt Reputationsrisiken, denn auch die neue Strategie nützt nicht allen Menschen gleichermaßen. Vor allem Aktieninhaber und Immobilienbesitzer profitieren, weil die niedrigen Zinsen den Boom an Börsen und Wohnungsmärkten befeuern. Menschen mit geringen Einkommen können sich Aktieninvestments kaum leisten, ein Eigenheim schon gar nicht. Es ist Aufgabe der Politiker, diese sozialen Ungerechtigkeiten aufzufangen. Doch in der öffentlichen Wahrnehmung bleibt der Makel an der EZB hängen, zumal es ja stimmt: Die Geldpolitik begünstigt eher die Vermögen der Reichen, obwohl sie gleichzeitig auch für Wirtschaftswachstum und Jobs sorgt. Nie zuvor hat die Geldpolitik so massiv auf die Vermögensverteilung Einfluss gehabt.
Die Frage, ob die EZB mit ihren Maßnahmen zu weit geht, stellt sich nun auch beim Kampf gegen den Klimawandel. Die Notenbank hat eine Strategie entwickelt für eine grüne Geldpolitik. Sie möchte künftig bei der Beleihung und dem Kauf von Wertpapieren darauf achten, ob die betroffenen Banken und Unternehmen ihre Geschäftsstrategie an den Klimazielen ausrichten. Die EZB macht sich dadurch nolens volens zu einem Fürsprecher grüner Investments. Es ist gut möglich, dass mancher dies als Gütesiegel für diese Anlageprodukte empfindet. Doch wie wird die Öffentlichkeit reagieren, wenn es eines Tages bei diesen Investments zu Kursverlusten kommt? Die Menschen könnten empört sagen: Die EZB hat es doch empfohlen. Eine Notenbank kann Verluste an den Börsen in aller Regel verschmerzen. Aber sollte es aufgrund der Nullzinspolitik oder anderer Auslöser an den Börsen zu einem Crash kommen, muss die Notenbank eine unangenehme Frage beantworten: die nach ihrer Verantwortung.