Süddeutsche Zeitung

Exporte:Es tut jetzt schon weh

Die exportorientierte britische Wirtschaft ist nach dem Brexit-Referendum schockiert.

Europas Politiker versuchen, sich zu sammeln, sich trotzig den störrischen Austrittsbriten entgegenzustellen. Auf der Insel wiederum ist die qualvolle Suche nach dem Regierungschef angelaufen, der in ein paar Monaten den Ausweg aus dieser veritablen EU-Krise finden könnte. Und in der Wirtschaft? Geht die Furcht um, dass man an dem politischen Desaster Schaden nimmt.

Im Laufe des Sommers würden vermutlich geldpolitische Anreize benötigt, sagte der Chef der britischen Notenbank, Mark Carney, am Donnerstag, sprich: Es soll mehr Geld in den Markt gepumpt werden. Der wirtschaftliche Ausblick Großbritanniens habe sich verschlechtert. Die "unbequeme Wahrheit" sei, dass die Zentralbank den wirtschaftlichen Schock eines EU-Austritts nicht komplett kompensieren könne. Viele Fragen sind offen eine Woche nach dem Referendum, nur eines ist sicher: die Unsicherheit. Die aber ist Gift für eine Volkswirtschaft. Unternehmen investieren nur dann, wenn sie wissen, woran sie sind. In Großbritannien wissen sie es nicht. Gerade hat Siemens auf der Insel für Aufregung gesorgt. Solange die Brexit-Frage nicht geklärt ist, wird der Münchner Konzern nicht mehr in seine Windanlagen-Produktion in der 250 Kilometer nördlich von London liegenden Hafenstadt Hull investieren. Das gerade neu gebaute Werk in Hull, das 1000 Menschen beschäftigen soll, um neben dem britischen Heimatmarkt auch noch den Kontinent beliefern zu können, wird nicht erweitert. "Diese Pläne sind erst einmal zum Stehen gekommen" sagt Jürgen Maier, der Großbritannien-Chef von Siemens. Das bleibe so, bis klar sei, "was eine neue Regierung plant, wie wir von EU-Forschungsprogrammen profitieren können und bis alle Fragen von Zöllen und Handel geklärt sind."

Es gibt einiges, was dem Optimismus in der zweitgrößten Volkswirtschaft Europas entgegensteht.

Zum Beispiel sind es zu erwartende Preissteigerungen als Folge der jüngsten Pfundabwertung. Ein Faktor, der den Lebensstandard der Briten einschränken wird, weil die britische Volkswirtschaft stark auf den Import von Industriegütern angewiesen sind. Das andere ist die Furcht vor Zöllen der EU, die britische Produkte auf dem Weg von der Insel auf den Kontinent verteuern würden. Damit verbinden sich das Bangen um Arbeitsplätze und eine zunehmende Zurückhaltung bei den Verbrauchern. Erste Anzeichen sind schon sichtbar. Nach dem Referendum sind auf der Insel die Aktien von Immobilienfirmen besonders stark gefallen, einige um mehr als 25 Prozent. Zum Teil wurde der Handel der Aktien von Immobilienfirmen an der Londoner Börse sogar ausgesetzt. Man erwartet, dass die Häuserpreise sinken.

Berichten zufolgen denken auch internationale Bekleidungsketten in London bereits darüber nach, die Preise für ihre fast ausschließlich eingeführten Produkte anzuheben, nachdem das Pfund gegenüber dem Dollar in den vergangenen Tagen um mehr als zehn Prozent gefallen ist.

Auch in der Autoindustrie herrscht Verunsicherung. Der Branchenverband Society of Motor Manufacturers and Traders (SMMT) schickte gerade eine diplomatisch formulierte Warnung an die Politiker in London mit der Bitte, diese Industrie durch den Brexit nicht zu beschädigen. Der Zugang zum EU-Binnenmarkt hätte geholfen die britische Autoindustrie "zu einer der wettbewerbsfähigsten der Welt zu machen", erklärte der Verband. Jetzt fürchten die Autohersteller um den kontinentalen Markt. "Wir sind in der ersten Liga der Weltautoindustrie", sagt Verbandschef Mike Hawes. "Wir wollen nicht, dass die jetzigen Unsicherheiten zu unserem Abstieg in die zweite Liga führen."

Vor allem die Japaner sind alarmiert. Die Konzerne Nissan, Toyota und Honda haben Großbritannien bisher als Brückenkopf für Exporte in die gesamte EU genutzt. Sollten nach einem Brexit plötzlich Zölle für Einfuhren auf den Kontinent wirken, sind die europäischen Geschäfte direkt berührt.

Am stärksten ist das Risiko für Nissan, den größten Autohersteller auf der Insel, der hier im vergangenen Jahr 500 000 Fahrzeuge baute. Die Aktien des Renault-Partners sind in den vergangenen Tagen besonders stark gefallen. Auch Toyota ist verunsichert. Nach einem Krisentreffen von Autoindustrievertretern in Japan sagte der Toyota-Vertreter Shigeru Hayakawa: "Es gibt sehr viele Unsicherheitsfaktoren".

Fürchterlich

Aus Furcht vor einem Brexit hat sich das Wachstum der britischen Wirtschaft schon in den ersten drei Monaten des Jahres spürbar abgeschwächt. Gegenüber dem vorherigen Quartal sank das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 0,7 auf 0,4 Prozent, meldete am Donnerstag die Statistikbehörde. "Die Unternehmen haben wohl wegen besonderer Vorsicht angesichts des bevorstehenden Referendums weniger investiert", sagte Howard Archer von IHS Global Insight. Ebenso habe sich beim Export ein "enttäuschender" Rückgang gezeigt. Die Regierung, der IWF und zahlreiche Ökonomen hatten vor den wirtschaftlichen Folgen eines Brexit gewarnt. "Das Referendum hat schlechte Aussichten in fürchterliche verwandelt", erklärte Analyst Samuel Tombs. "Wir erwarten nun, dass ein Zusammenbruch der Unternehmensinvestitionen, ein Einstellungsstopp und deutlich höhere Inflation die britische Wirtschaft in die Rezession stürzen werden." afp

Nissan, Toyota und Honda stellen zusammen die Hälfte aller in Großbritannien gebauten Fahrzeuge her. Die meisten Autos gehen in den Export, die Hälfte davon in EU-Länder. Das Risiko, dass Toyota und Honda auf die Dauer Großbritannien verlassen, sollten sie mit einem Zoll von zehn Prozent für Exporte in die EU belegt werden, liegt nach Spekulationen von Analysten bei 75 Prozent. "Schon in den vergangenen beiden Jahrzehnten haben sie nur wenig verdient", sagt der Analyst Koji Endo von Advanced Research Japan.

Dabei hätte die Pkw-Nachfrage im Königreich in den Jahren 2016/17 nach langjährigem Wachstum auch ohne den Brexit ihren konjunkturellen Höhepunkt überschritten. Die Ankündigung des Ausscheidens Großbritanniens aus dem Gemeinsamen Markt macht die Lage noch schwieriger.

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SZ vom 01.07.2016
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