Er wächst und wächst und wächst. Unter den Augen von Federico Ghizzoni sprießt "Odysseus" aus der öden Mailänder Erde der Aprilsonne entgegen. Nun ist Wachstum ein großes Wort in seinem Land. In Italien, das Stagnation und Rezession gefangen halten, trifft es seit zwei Jahrzehnten die wirtschaftliche Lage nicht mehr. Auch der Chef des Geldkonzerns Unicredit schlägt sich damit herum. Und nun das: Aus seinem Büro im 28. Stock des höchsten Wolkenkratzers Italiens schaut Ghizzoni dem prächtigen Gedeihen eines fünf Hektar großen Kornfelds zu. Im Juli werden die goldenen Ähren der schnell wachsenden Hartweizensorte "Odysseus" gedroschen.
Der Getreideacker in der City wurde in Mailand zur Weltausstellung angelegt, die in Kürze eröffnet wird. Das "Wheatfield" der New Yorker Konzeptkünstlerin Agnes Denes soll ein Zeichen setzen: "Es ist ein Anfang, der unser Verhältnis zur Erde erneuern kann", sagt die Pionierin der Landscape-Art. Genau darum geht es vom 1. Mai an. Mit ihrem Expo-Thema "Den Planeten ernähren - Energie fürs Leben" wollen die Italiener zum Umdenken animieren. Sechs Monate lang suchen 145 Teilnehmerländer in Mailand Ideen und Lösungen für die brennendste Frage der Menschheit: die Nahrungssicherung. Doch die Krisennation hofft zugleich, dass mit der Großveranstaltung endlich auch der Aufschwung kommt. Regierungschef Matteo Renzi rief 2015 schon mal zum "Annus felix" aus.
Erst einmal bangen die Italiener aber noch um ihre Expo. Die Uhr läuft. Noch verstopfen die Fahrzeuge der Bautrupps die Geländezufahrten. Rundherum schuften 7430 Arbeiter auf Europas größter Baustelle. Lärm dringt von allen Seiten in den deutschen Pavillon. "Irgendwie schaffen sie es am Ende dann doch wieder", sagt Bernd Herrndorf, Projektmanager vom Münchner Architekturbüro Schmidhuber, über den atemberaubenden Schlussspurt der Veranstalter.
Der Start war eine Katastrophe. Erst verschenkte Mailand Jahre mit lokalen Querelen bei den Vorbereitungen. Dann warfen Korruptionsaffären die Planung über den Haufen. Italien eben. Vor einem Jahr ging dann die große Aufholjagd los. "Expo ist heute nicht mehr das Synonym für den Skandal, sondern für die Ambition Italiens", sagt Renzi inzwischen. 21 Millionen Besucher erwarten die Gastgeber in dem Agrofood-Park. Expo ist eine einmalige Gelegenheit für sie. Die Visitenkarte eines Landes in einem dramatischen Moment seiner Geschichte. Industriellenchef Giorgio Squinzi glaubt fest daran, dass die 184 Ausstellungstage dem Land die Trendwende bringen. "Die Expo ist unser Sprungbrett für Wachstum", sagt der Mailänder Chemieunternehmer. Das Thema kombiniere sich hervorragend mit den Kompetenzen Italiens, dem fünftgrößten Nahrungshersteller der Welt.
Bei dem globalen Event zeigt sich das Krisenland von der Schokoladenseite. Geht es ums Essen, spielt Italien seine Stärken noch gut aus. Man ist bei 23 Produkten Marktführer, bei weiteren 54 Produkten liegt das Mittelmeerland auf dem zweiten oder dritten Platz. Das Ernährungsmodell fußt auf der traditionellen Qualität, Ausgewogenheit und Nachhaltigkeit der italienischen Küche. Die Lebensmittelbranche behauptet sich mit 58 000 Unternehmen und 385 000 Beschäftigten als zweitgrößter Industriezweig des Landes. Sie hat 720 Millionen Kunden weltweit. Allein die Deutschen verzehren italienische Esswaren für mehr als 4 Milliarden Euro im Jahr.
Oft bleiben die Hersteller direkt mit den 850 000 Landwirten verbunden - ein Glücksfall. "Dieses Know-how wollen wir auf der Expo vorstellen, um weltweit eine nachhaltige Produktion zu verbreiten", sagt Luigi Scordamaglia, Präsident des Nahrungsmittelverbandes.
Keine Landwirtschaft in Europa erzielt höhere Erträge als die italienische. Ein Hektar wirft 1989 Euro Wert ab. Sauberer ist sie auch. Der Ausstoß von Treibhausgasen liegt 35 Prozent unter dem EU-Durchschnitt. Der Düngereinsatz sinkt seit einem Jahrzehnt, 2014 um 13,4 Prozent. Die meisten Biobauern Europas hat Italien. Und die größte Vielfalt: Die toskanische Finocchiona, eine mit wildem Fenchel gewürzte Wurstspezialität, holte sich gerade in Brüssel das Igp-Siegel für geschützte geografische Herkunftsbezeichnungen, sie ist das 271. Erzeugnis aus Italien.

Die Lokalprodukte gehen um die Welt. Die Ausfuhren legten zwischen 2004 und 2014 um 84 Prozent zu. Der Exportanteil stieg von 14 auf 20,5 Prozent. Doch der Blick nach Deutschland verstimmt die stolzen Italiener. Die Crauti verkaufen 33 Prozent ins Ausland. "Als wären die Deutschen für ihre Küche berühmt", ätzt ein Branchen-Lobbyist.
Also setzt die Food-Großmacht nun auf die Hilfe der Expo und der Regierung. Carlo Calenda, früher Ferrari-Manager und heute die Nummer zwei im römischen Industrieministerium, hat ein 48-Millionen-Euro-Programm zur Internationalisierung angeschoben. Calendas Ziel: den Lebensmittelexport auf 50 Milliarden Euro fast zu verdoppeln. Dadurch sollen 100 000 Arbeitsplätze entstehen. "Der Plan ist operativ und markiert einen tiefen Wandel in der Regierungspolitik", lobt Scordamaglia.
Jetzt oder nie heißt es nicht nur für die Vorzeigebranche. "Now or Never" überschrieb Daniele Antonucci, Südeuropa-Experte von Morgan Stanley in London, vor drei Tagen seinen Italien-Report. Das Zusammenspiel externer und interner Faktoren gebe Italien gerade die Chance, "zu einer positiven Überraschung" zu werden. Auch für Unicredit-Chef Ghizzoni brächen mit einem Aufschwung bessere Zeiten an.