Süddeutsche Zeitung

Exit-Strategie:Wo ist hier der Ausgang?

"Wir müssen alle lernen, mit der Unsicherheit zu leben": Ökonomen bereiten die Deutschen auf eine monatelange Krisenwirtschaft und eine neue Realität nach der Krise vor. Auch die Politik betrete nun Neuland, und das in doppelter Hinsicht.

Von Markus Balser und Marc Beise, Berlin/München

In der Wirtschaft ist es derzeit die Frage, die über fast allem steht: Wann und wie werden die Einschränkungen des öffentlichen Lebens im ganzen Land wieder gelockert? Einer der führenden deutschen Ökonomen stellt nun klar, dass es so schnell wohl keine Rückkehr zur Normalität vor der Krise geben wird. Noch das gesamte Jahr sei Deutschland "darauf angewiesen, weiter in einer Krisenwirtschaft zu agieren", sagt Christoph Schmidt, Präsident des Wirtschaftsforschungsinstitut RWI und Ex-Präsident des Sachverständigenrats, der Süddeutschen Zeitung.

Schmidt ist einer der Hauptautoren einer Studie der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften, Acatech, in der er für die Zeit nach der Krise zukunftsweisende Maßnahmen wie Konjunkturpakete skizziert. Für Schmidt ist klar, dass auch einer längeren Übergangsphase kein business as usual folgen wird. "Über eine Exit-Strategie zu diskutieren, ist unglücklich. Das suggeriert, dass wir zum alten Zustand zurückkehren", warnt Schmidt. "Wir werden aber eine neue Realität bekommen."

Der Essener Ökonom nennt den Zustand nach der Krise "eine Phase der wachsamen Normalisierung", in der es Rückschläge geben werde, Politik und Wirtschaft müssten deshalb immer wieder nachsteuern. "Sicher wird es nicht schon nach Ostern die Rückkehr in eine Welt geben, in der die Corona-Krise Geschichte ist", sagt Schmidt. Es gehe darum, in Zukunft anders und krisenfester zu wirtschaften. Wichtig sei es etwa, am Klimaschutz festzuhalten, um Klimakatastrophen wie Trockenheit und Dürre vorzubeugen.

Die Forscher der Technik-Akademie fordern von der Bundesregierung auch organisatorisch neue Schritte: "Wir brauchen in der Bundesregierung neben dem Corona-Kabinett eine stärkere Koordinierung." Die Acatech-Arbeitsgruppe schlägt deshalb einen neuen Krisenstab mit Sitz im Kanzleramt vor. Die größte Herausforderung für die Politik sei, dass sie sich in doppelter Hinsicht im "Neuland" bewege. "Wir wissen noch immer nicht alles über die Krankheit. Und wir wissen auch nicht, wie es funktioniert, eine Wirtschaft in Winterschlaf zu versetzen und wieder aufzuwecken", warnt Schmidt. Deshalb müsse ein solches Gremium die Erfahrungen aus allen Bereichen von Politik und Wissenschaft zusammenführen. Die Regierung müsse der Bevölkerung zudem klarer als bisher sagen, dass es große Unsicherheiten gebe. "Es ist wichtig, dass alle Beteiligten das stärker kommunizieren. Wir müssen alle lernen, mit der Unsicherheit zu leben."

Die Experten plädieren für einen stufenweisen Übergang und eine am Risiko orientierte Strategie

In der öffentlichen Debatte wird teilweise kritisiert, dass die Regierung bisher vor allem auf Virologen und Mediziner höre. Zunehmend finden sich aber fachübergreifende Gruppen von Wissenschaftlern zusammen, die sich über die Rettungsmaßnahmen Gedanken machen. So hat eine Gruppe hochkarätiger Ökonomen, Mediziner, Virologen und Ethiker unter dem Titel "Die Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie tragfähig gestalten" Empfehlungen für eine "flexible, risikoadaptierte Strategie" vorgelegt .

Koordiniert vom Präsidenten des Ifo-Instituts in München, dem Wirtschaftsprofessor Clemens Fuest, und dem Mediziner Ansgar W. Lohse vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf halten die Experten die bisherigen Maßnahmen zwar für geeignet, ein Abflachen der noch steil ansteigenden Kurve der Infektionszahlen zu erreichen und damit eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern sowie die Zahl schwerer Erkrankungen und Todesfälle zu reduzieren. Gleichzeitig aber hätten diese Maßnahmen negative gesundheitliche, soziale und psychische Folgen, dies treffe neben den medizinischen Risikogruppen besonders sozial schlecht gestellte Menschen. Ferner werde die Wirtschaft schwer geschädigt - "ein funktionierendes Wirtschaftssystem ist aber Voraussetzung für ein funktionierendes Gesundheitssystem", warnen die Autoren.

Zwar könne man die bisherigen Einschränkungen nicht rasch und vollständig aufheben, weil sich dann das Virus erneut sehr rasch ausbreiten und viele Opfer fordern würde. Aber auch eine Fortführung des harten Kurses bis zu dem Zeitpunkt, zu dem Wirk- und Impfstoffe vorliegen (vermutlich nicht vor 2021), sei nicht zu empfehlen. Stattdessen fordern die Wissenschaftler einen "stufenweisen Übergang zu einer am jeweils aktuellen Risiko orientierten Strategie, die eine Lockerung von Beschränkungen im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umfeld mit weiterhin effektivem Gesundheitsschutz verbindet."

So sollten zunächst Sektoren mit niedriger Ansteckungsgefahr wieder geöffnet werden, etwa hochautomatisierte Fabriken, und Institutionen mit weniger gefährdeten Personen, etwa Kindertagesstätten und Schulen - letzteres unter anderem deshalb, weil viele Menschen mit Kindern nicht zur Arbeit gehen könnten, wenn die Bildungseinrichtungen geschlossen seien. Sektoren, in denen gut mit Home-Office und digitalen Techniken gearbeitet werden kann, hätten weniger Priorität als Sektoren, in denen das nicht gehe.

Sektoren mit hoher Wertschöpfung, insbesondere Teile des verarbeitenden Gewerbes, müssten schneller wieder öffnen als andere Bereiche. Auch Regionen mit niedrigeren Infektionsraten und weniger Verbreitungspotenzial könnten eher liberalisiert werden, ebenso Regionen mit freien Kapazitäten in der Krankenversorgung. Beschränkungen, die hohe soziale oder psychische Belastungen implizierten, sollten vorrangig gelockert werden. Bei einer solchen Stufenlösung werde sich dann nach und nach eine immer größere natürliche Immunität im Land einstellen.

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SZ vom 07.04.2020
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