Süddeutsche Zeitung

Ex-Siemens-Vorstand Volker Jung:Zurück aus dem Insel-Knast

Der frühere Siemens-Vorstand Volker Jung flieht aus Griechenland. Die hellenische Justiz verfolgt ihn weiter in der Schmiergeldaffäre - trotz gegenteiliger Ermittlungen der Münchner Staatsanwaltschaft.

Hans Leyendecker und Klaus Ott

Der Rentner, der vor einigen Tagen durch die Münchner Innenstadt schlenderte, blieb manchmal stehen und schaute sich um. Der Marienplatz, der Stachus, das Siegestor - das alles waren für Volker Jung vertraute Orte, und doch waren sie für den 71 Jahre alten Münchner zeitweise ganz weit weg gewesen. Bei seinem Rundgang traf er auch ein paar alte Bekannte, und die berichteten später, wie erleichtert der Alte gewirkt habe. Aber Jung sehe auch "ziemlich mitgenommen" aus, sagte einer. Er sei, seit er im Frühjahr 2009 zum letzten Mal in München war, um fünf Jahre gealtert, hat Jung Freunden geklagt.

Fast anderthalb Jahre lang war Jung, der bis 2003 dem Zentralvorstand von Siemens sowie dem Verwaltungsrat von Siemens Hellas angehörte, von den Behörden in Griechenland festgehalten worden, weil er in den größten deutschen Schmiergeldskandal verwickelt sein soll. Er hielt sich in dieser Zeit meist in seinem Ferienhaus auf der Insel Paros in der Ägäis auf. Keine kleine Bude, sondern ein Häuschen mit 160 Quadratmetern Wohnfläche auf einem anständigen Grundstück. Aber auch ein komfortabler Knast bleibt ein Knast.

Anfang des Monats ist Jung, der an der Darmkrankheit Zöliakie leidet und spezielle Lebensmittel braucht, die es auf der Insel nicht gibt, mit seiner Frau in die Heimat geflüchtet. Sie sind zunächst auf den Peloponnes gefahren, haben dort abgewartet, wie die griechische Justiz über den neuesten Ausreiseantrag entscheiden würde. Doch als klar war, dass auch dieses Gesuch abgelehnt werden würde, haben sie sich in Richtung Adria abgesetzt. Nur raus.

Jetzt wird Jung, der Vizepräsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) war, den Aufsichtsrat der Infineon AG leitete und auch sonst viele wichtige Ämter innehatte, per internationalem Haftbefehl gesucht. In Berlin und München dürfte bald auch ein Auslieferungsantrag der griechischen Behörden eintreffen. Der Fall liefert alle Voraussetzungen für einen außenpolitischen Eklat.

In Griechenland ist nach Jungs Flucht die Aufregung groß. Den Polizeibeamten auf Paros, die mit acht Mann auf der Insel Dienst tun und auch auf den Ex-Manager aufpassen sollten, droht ein Disziplinarverfahren. Die Regierungspartei Pasok wirft der Justiz vor, Jung nicht wegen "Bandenbildung" ins Gefängnis gesteckt zu haben. Die Opposition wiederum behauptet, die Regierung habe rundweg versagt. Jung schweigt zu alledem. Seine Anwälte schirmen ihn vor den Medien ab, auf Anraten deutscher Behörden.

Zurückhaltende Diplomaten

In Berlin geben sich die Experten des Auswärtigen Amtes und die Spezialisten des Bundesjustizministeriums bedeckt. "Nur kein Öl ins Feuer gießen", müsse jetzt die Maxime sein, sagt ein Diplomat. Bei einem Besuch in Athen hatte sich vor einem dreiviertel Jahr Außenminister Guido Westerwelle für Jung eingesetzt, aber nichts erreichen können. "Was die griechische Justiz macht, ist rechtsstaatlich nicht in Ordnung", sagt Otto Wiesheu, der als bayerischer Wirtschaftsminister viel erlebt hat. Jung ist auf dem Weg, ein Justizopfer zu werden, ein Bauernopfer ist er schon geworden.

In fast 190 Ländern hat der Siemens-Konzern seine Dependancen, und als Münchner Staatsanwälte, angeführt von der Oberstaatsanwältin Hildegard Bäumler-Hösl, die Schmiergeldaffäre aufarbeiteten, spielten auch Durchstechereien in Griechenland eine Rolle. Der Konzern war wichtiger Lieferant von vielem gewesen, was in Griechenland mit High-Tech zu tun hatte und Strom brauchte, und natürlich war auch in Athen geschmiert worden, um lukrative Großaufträge zu bekommen. Niemand muss der Oberstaatsanwältin Bäumler-Hösl erklären, wie die Dinge bei Siemens gelaufen sind.

Aber die Ermittlerin ist zu der festen Überzeugung gelangt, dass Jung mit Korruptionsgeschichten des Siemens-Konzerns in Griechenland nichts zu tun hatte. Sie kennt die Akten, sie hat Beschuldigte über die Aktivitäten des gelernten Diplom-Ingenieurs befragt und sie hat auch ihn vernommen. Das war im Mai 2008. Auf fünf Seiten hat sie dann in diesem Jahr in einem Brief an Jungs Anwalt dargelegt, dass gegen den ehemaligen Vorstand kein Anfangsverdacht wegen "möglicher Verwicklungen in Korruptionshandlungen" bestehe.

Bäumler-Hösl hat in dem Schreiben ausführlich dargelegt, dass der heute 71-Jährige mit dem System der schwarzen Kassen nichts zu tun hatte, und bei ihren Erläuterungen hat sie aus diversen Verhören von Zeugen und Beschuldigten zitiert. Der "Grundtenor" sei gewesen, dass man einen wie Jung niemals eingebunden hätte. Der Diplom-Ingenieur, der aus Angst vor Industriespionage in seinem Münchner Büro gern mit einem Zerhacker-Telefon telefonierte und bei Gesprächen mit Mitarbeitern immer wieder mal die Rauschanlage anstellte, sei eine zu schwierige Persönlichkeit gewesen, um mit ihm krumme Sachen verlässlich zu vereinbaren.

Außerdem gehörte er zwar von 1999 bis 2003 dem Verwaltungsrat von Siemens Hellas an, er war sogar Präsident des Kontrollgremiums, aber er leitete nur zwei Sitzungen im Jahr und die dauerten jeweils ein paar Stunden. Eine Verwechslung vielleicht. In Griechenland ist der Präsident ein Patron, der alles weiß und steuert. Der für den Fall Jung in Athen zuständige Staatsanwalt soll das Schreiben der deutschen Kollegin achtlos zur Seite gelegt haben. Wissen die dortigen Ermittler mehr über Jung als die deutschen Kollegen? Wohl kaum. Den Griechen liegen vor allem die Erkenntnisse aus München vor. Die Athener Anklage gegen Jung ist dünn.

Also alles nur Theater? Diesen Eindruck konnte man haben, als kürzlich Mitglieder eines griechischen Untersuchungsausschusses in München Zeugen im Siemens-Fall befragten. Auf der Liste standen auch prominente Siemens-Manager, die erst nach der Affäre gekommen waren. Sie konnten über die alten Durchstechereien nichts berichten. Ein anderer wusste nur zu berichten, der Konzern habe in Griechenland 30 Mitarbeiter des Managements entlassen.

"Als Amerikaner säße ich längst nicht mehr hier"

Aber einer muss der Schuldige sein. Irgendjemand muss am Pranger stehen. Otto Wiesheu, der frühere Wirtschaftsminister, denkt bei solchen Geschichten gleich ans Geld. Er habe den Eindruck, sagt er, dass "Jung als Druckmittel benutzt werden sollte, damit Siemens Schadenersatz zahlt". Zwei Milliarden Euro Schadenersatz müsse Griechenland für die Schmierereien von Siemens verlangen, hat jüngst ein Abgeordneter der Linkspartei Pasok von den Parteifreunden in der Regierung gefordert. Mindestens. Das Land ist fast pleite.

Sind einige Griechen ein bisschen dreist und wie muss die deutsche Politik damit umgehen? "Wenn ich Amerikaner, Engländer oder Franzose wäre, säße ich längst nicht mehr hier", hat Jung vor seiner Flucht gesagt. "Diese Länder würden Griechenland mehr unter Druck setzen". Auf Paros hatte er erzählt bekommen, dass die Griechen wegen Korruptionsverdacht auch gegen eine andere große Firma aus einem westlichen Land vorgehen wollten. Der Botschafter des Landes soll zur griechischen Regierung marschiert sein und Klartext geredet haben. "Wenn ihr etwas gegen unsere Leute macht, packen wir Euch bei den Eiern." Das war nicht nett und auch nicht höflich, aber es hat offensichtlich gewirkt.

Für Jung wird das Räuber-und-Gendarm-Spiel erst einmal weitergehen. Deutschland wird ihn zwar nicht ausliefern, aber Auslandsreisen sind für ihn jetzt tabu. Bei jeder Passkontrolle könnte er festgenommen und nach Athen überstellt werden. Diese Reisesperre ist für einen Mann, der als Zentralvorstand einst mehr als hundert Länder betreut hat, ein ziemlicher Einschnitt. Aber immer noch besser, als Gefangener auf Paros zu sein.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1024762
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 17.11.2010/aum
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.