Süddeutsche Zeitung

Finanzmarkt:Der Fall Evergrande weckt böse Erinnerungen

Lesezeit: 3 min

Ein Immobilienkonzern wankt und die Börsen zittern: Was gerade in China passiert, erinnert an den Fall Lehman Brothers. Eine neue Finanzkrise halten Experten für unwahrscheinlich. Und doch könnte es die Wirtschaft hart treffen - auch in Deutschland.

Von Christoph Giesen, Peking, und Victor Gojdka, Frankfurt, Peking/Frankfurt

Eigentlich sollte es ein Festtag werden, mit Cocktails, Buffet und Börsenglocke: Pünktlich zum Start des erweiterten deutschen Leitindex Dax mit 40 Titeln wollten die Börsenoberen am Parkett medienwirksam Aufbruchstimmung verbreiten. Doch wegen Corona mussten die Organisatoren nicht nur den Empfang absagen, obendrein krachte der Dax auch noch in die Tiefe: Bereits bis zum Mittag hatte sich ein Verlust von knapp drei Prozent angesammelt, später grenzte sich der Wert auf 2,3 Prozent ein. Die Sorge der Anlegerinnen und Anleger: Könnte eine Pleite des chinesischen Immobiliengiganten Evergrande auch die westlichen Finanzmärkte treffen? Die SZ beantwortet die drängendsten Fragen.

Was steckt hinter der Immobilienfirma Evergrande?

Evergrande klingt nicht nur dem Namen nach groß, das Immobilienunternehmen ist es tatsächlich. Bei dieser Firma handelt es sich um den zweitgrößten Immobilienentwickler in der Volksrepublik, Ende des vergangenen Jahres werkelte Evergrande an knapp 800 Immobilienprojekten im ganzen Land. Das Prinzip: Interessenten zahlen per Vorkasse, dann baut der Immobilienkonzern. Hinter dem Firmenimperium steht der Milliardär Xu Jiayin, der sich selbst meist Hui Ka Ya nennt. Nach seiner Karriere in einem staatlichen Stahlwerk gründete er das Unternehmen 1996 und profitierte dabei nicht nur von besten Beziehungen zur Kommunistischen Partei, sondern auch vom Bauboom in China. 2017 wurde er vom Wirtschaftsmagazin Forbes zum reichsten Mann Asiens gekürt. Jetzt sitzt der Konzern jedoch auf rund 300 Milliarden Dollar Schulden.

Warum hat Evergrande nun so große Probleme?

Die chinesische Aufsicht hat in den vergangenen Monaten etliche neue Regeln erlassen, um den Immobilienmarkt in der Volksrepublik abzukühlen. Die "drei roten Linien" nennt die Propaganda die neuen finanztechnischen Vorgaben für Baukonzerne. Das Verhältnis von Verbindlichkeiten zu Vermögenswerten muss erstens geringer sein als 70 Prozent. Der Nettoverschuldungsgrad darf zweitens nicht höher als 100 Prozent betragen. Schließlich wird drittens ein Verhältnis von liquiden Mitteln zu kurzfristigen Verbindlichkeiten gefordert, das größer als Faktor eins sein muss.

Was nach trockener Finanzarithmetik klingt, ist für Evergrande ein Desaster: Im April riss der Konzern alle drei Vorgaben. Das Unternehmen darf deshalb keine neuen Kredite mehr aufnehmen. Seitdem tut es sich schwer, Anleihen zurückzuzahlen, vor allem aber weiterzubauen. Gerade das könnte Hunderttausende Chinesen um ihr Geld bringen. Denn: Weil die Regierung bereits in den vergangenen Jahren den Baukonzernen einen Zugang zu Bankkrediten erschwert hatte, haben viele der Firmen Graumarktfonds aufgelegt oder gleich gegen Vorkasse gebaut. Kollabiert Evergrande, drohen Anlegern gewaltige Verluste.

Kann Evergrande nicht einfach eigene Immobilien verkaufen und damit seine Schulden abzahlen?

Theoretisch wäre das möglich. So will der Konzern laut einer Mitteilung sogar ein eigenes Bürogebäude in Hongkong verkaufen, um Geld einzunehmen. Außerdem versucht Evergrande, sich von seiner E-Autosparte zu trennen. Das Problem: Bislang hatte der Konzern bei den beiden Ansinnen noch keinen Erfolg. Doch immerhin ein Farbenlieferant des Unternehmens gab Anfang September bekannt, dass Evergrande einen Teil seiner Verpflichtungen in Form von Immobilien abgezahlt hat. Über das Wochenende hat das Unternehmen auch seinen Privatanlegern angeboten, sie in Immobilien auszuzahlen.

Wird die Pekinger Führung den Konzern retten?

Fest steht: Ohne die gesetzlichen Verschärfungen aus Peking stünde Evergrande nicht am Abgrund. Es ist also anzunehmen, dass der Apparat einkalkuliert hat, dass Immobilienentwickler in existenzielle Gefahr geraten. Einen groß angelegten Bailout, also eine Rettungsaktion, wird es daher sehr wahrscheinlich nicht geben. Denkbar ist hingegen eine Zerschlagung von Evergrande. Regionale Regierungen und Behörden könnten dann einzelne Wohnanlagen verwalten und fertigbauen, um zu verhindern, dass chinesische Immobilienbesitzer ihre Vermögen abschreiben müssen.

Immobilien und Schulden, da denken viele an die Finanzkrise 2007/2008. Könnte Evergrande einen Dominoeffekt im Finanzsystem auslösen?

Das chinesische Finanzsystem ist vom Rest der Welt stark abgeschottet. Eine Bankenpleite wie im Herbst 2008 von der Investmentbank Lehman Brothers ist beinahe unmöglich. Schwierig könnte es für die Führung in Peking allerdings werden, die psychologischen Folgen des Evergrande-Desasters einzudämmen und Panikverkäufe von Immobilien zu verhindern. Aufgrund der strikten Kapitalausfuhrkontrollen und den Zockereien an den Börsen haben viele Chinesen ihr Vermögen in Wohnungen investiert.

Die Preise lassen sich schon seit Jahren nicht mehr mit Mathematik erklären. In Shanghai werden winzige Zwei-Zimmerwohnungen für acht Millionen Yuan angeboten, das sind umgerechnet über eine Million Euro. Die zu erwartende Miete: 7000 bis 8000 Yuan im Monat. Statistisch bräuchte man also tausend Monate, um die Wohnung abzubezahlen - 83 Jahre. Und das, obwohl in China niemand eine Wohnung offiziell besitzen darf. Denn das Bauland gehört dem Staat, China ist schließlich ein sozialistisches Land. Seit der Öffnungspolitik vor knapp 40 Jahren werden Immobilien lediglich für 70 Jahre verpachtet. Ein Investment, das man für 70 Jahre besitzt, aber 83 Jahre zahlt - nur mit dem strengen Glauben, dass die Kommunistische Partei den Immobilienmarkt schützen werde, ist das erklärbar.

Warum zeigten sich die westlichen Börsen so aufgekratzt?

Eine globale Finanzkrise halten Fachleute derzeit nicht für unmöglich, aber auch nicht für wahrscheinlich. Doch selbst ohne Dominoeffekt im Finanzsystem könnte der Fall Evergrande die Börsen treffen: Sollte im Zuge der Turbulenzen die Immobilienblase in China platzen, könnte das schwerwiegende Folgen für die gesamte Wirtschaft haben - von Stahlkonzernen bis zum Handwerk. Weil Privatleute große Summen in Immobilien gesteckt haben, könnten viele Chinesen künftig auf andere kostspielige Anschaffungen verzichten, zum Bespiel ein neues Auto. Das wiederum würden vor allem deutschen Hersteller in ihren Bilanzen merken, für die China der mit Abstand wichtigste Markt ist.

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