Süddeutsche Zeitung

Europawahl:Wirtschaft im Wahlkampfmodus

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Noch nie haben sich deutsche Unternehmen so sehr für Europa eingesetzt wie vor diesen Wahlen. Das zeigt, wie groß die Nervosität ist - denn die Wirtschaft hat viel zu verlieren.

Von Thomas Fromm

Die Buchhandelskette Thalia hat vor den Europawahlen mit ihrer Kampagne "Welt, bleib wach" einige interessante politische Handlungsanweisungen ausgegeben, eine davon geht so: "Für ein friedliches Europa muss kein Blut fließen. Tinte reicht." Lesen statt draufhauen, lautet die einfache Botschaft. Eine Sprecherin sagt, man wolle "ein Europa, das demokratisch und freiheitlich ist. Dafür müssen Bürger inhaltlich tief eintauchen."

Kurz vor den Europawahlen ist Thalia nicht allein. Die Wirtschaft ist seit Wochen schon im Wahlkampfmodus. VW hängt Plakate auf, auf denen "Volkswagen wählt Europa" steht. Bei der Telekom werden Videos gedreht, in denen Menschen andere Menschen auffordern, wählen zu gehen. BASF, Lufthansa, Thyssenkrupp, Spotify, der Handelsverband Deutschland (HDE) - es wird für Europa geworben, getwittert, gebloggt; im Internet und in firmeninternen Netzen wird über das Projekt Europa diskutiert wie selten. Die Wahlen 2019 hätten "das Potenzial, zur Richtungswahl über die Zukunft der EU zu werden", heißt es beim Einzelhandel.

Leute, geht wählen! Dafür lässt der E-Scooter-Anbieter Lime Menschen in zwölf Ländern sogar gratis in die Wahllokale rollen. Hauptsache, sie fahren hin.

Bei den Europawahlen vor fünf Jahren lag die Wahlbeteiligung in Deutschland bei gerade mal 48 Prozent. Die Sorge ist konkret, auch wenn die Unternehmen sie nicht offen nennen: Je mehr Menschen am nächsten Wochenende zu Hause bleiben, desto größer könnte der Erfolg der populistischen Parteien sein, der italienischen Lega, der deutschen AfD, des französischen Rassemblement National. Also ist das Ziel: Möglichst viele der fast 430 Millionen Wahlberechtigten zur Stimmabgabe zu bewegen. "Es hat uns selber überrascht", sagt ein Sprecher des EU-Parlaments. "Dass so viele Unternehmen mit politischen Kampagnen zur Europawahl rausgehen, hatten wir früher so nicht gesehen."

Für die Wirtschaft geht es um viel: um Europa, Märkte, Stabilität. "Mit ihren Netzen in zwölf europäischen Staaten ist die Telekom ein zutiefst europäisches Unternehmen", sagt ein Telekom-Sprecher. Man sei "überzeugt, dass die EU ihren Wohlstand auch dem Zusammenhalt der Mitgliedsländer verdankt". Deshalb brauche es ein starkes Europa - wirtschaftlich und politisch. Seit Jahren arbeiten Konzerne wie die Telekom, aber auch VW und all die anderen, in einem vereinigten Europa. Es gibt für die Industrie also viel zu verlieren: Exporte, Märkte, Jobs, Sicherheit. "Gerade auch bei der zunehmenden Digitalisierung brauchen wir Europa und den digitalen Binnenmarkt", heißt es bei der Telekom.

Heute geht es darum, Europa zusammenzuhalten und zu verteidigen

Nun ist es nicht neu, dass sich Konzerne politisch positionieren. Schon 1979 hatte Volkswagen eine Doppelseite in seiner Mitarbeiterzeitung produzieren lassen, mit der die Mitarbeiter zum Urnengang bei der Europawahl in jenem Jahr aufgerufen wurden. "Das hat bei uns Tradition", heißt es in Wolfsburg. Damals seien viele Menschen aus dem europäischen Ausland, vor allem aus Italien, nach Niedersachsen gekommen, um dort zu arbeiten.

Seitdem hat sich vieles verändert in Europa. Vor 40 Jahren ging es noch darum, Europa aufzubauen. Heute geht es darum, Europa zusammenzuhalten und gegen seine Gegner zu verteidigen. "Europa ist nicht mehr so selbstverständlich wie früher, deshalb muss man sich engagieren", sagt ein VW-Sprecher. Und: "Natürlich spielt auch der Brexit hier eine Rolle." Deshalb wolle man "bis zum letzten Tag die Trommel für die Europawahlen rühren".

Der Brexit ist das große Trauma der Manager, und es steckt tief. Bis zuletzt hatten Unternehmen wie der Autobauer BMW, der mit seinen Marken Mini und Rolls Royce in Großbritannien vertreten ist, vor dem Referendum der Briten gegen die Londoner Ausstiegspläne argumentiert und auf die Vorzüge der Mitgliedschaft im europäischen Klub verwiesen - bekanntlich vergeblich. In der Thalia-Kampagne "Welt, bleib wach" nimmt man die Sache mit dem Brexit jetzt zumindest mit etwas Humor. Dort heißt es: "Leben auf einer einsamen Insel: 66 Millionen Briten haben's geschafft."

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SZ vom 23.05.2019
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