Mehr als 18 000 Nutzer folgen Joe Kaeser inzwischen bei Twitter, und der Siemens-Vorstandschef nutzt den amerikanischen Kurznachrichtendienst gerne mal für pointierte Äußerungen, die dann Aufsehen erregen. Als vor einigen Wochen der geplante Zusammenschluss der Siemens-Zugsparte mit dem Konkurrenten Alstom vor dem Aus stand, schrieb Kaeser: "Wer Europa liebt, der sollte sich nicht in rückwärts gerichteten Formeln verlieren."
Siemens wollte sich in der Bahntechnik eigentlich mit dem Wettbewerber aus Frankreich zusammentun, um so auf den Weltmärkten ein Gegengewicht zum deutlich größeren chinesischen Zughersteller CRRC zu bilden. Die EU-Kommission untersagte das. Nicht nur der Siemens-Chef befürchtet, dass nun die europäische Bahnindustrie irgendwann ihre weltweite Führungsrolle verlieren und ins Hintertreffen geraten könnte. Die Chinesen könnten mit Macht auf die Weltmärkte für Nahverkehrs- und Hochgeschwindigkeitszüge drängen, Europa hätte das Nachsehen und würde zu einem Abnehmermarkt werden.

Europäische Geschichte:Die Kalküle des Mars
Als die Warlords in Europa die Bühne betraten: Herfried Münklers großes Buch über den Dreißigjährigen Krieg schreibt Geschichte in Möglichkeiten.
Es wäre nicht das erste Mal. Es gibt viele Branchen, in denen Europa und Deutschland ganz groß waren - und heute keine Rolle mehr spielen.
Gerade Siemens weiß, wie es laufen kann. Schon 1985 stieg der Münchner Konzern, der vor mehr als 150 Jahren als Telegraphen Bau-Anstalt von Siemens & Halske gegründet wurde, in das Handygeschäft ein, schon 1994 verkaufte er Mobiltelefone. 1997 brachte Siemens das weltweit erste Handy mit Farbbildschirm auf den Markt, zwei Jahre später das erste Slider-Modell, das man aufschieben konnte. Die Hoffnungen waren groß, Siemens gehörte damals zu den größten und besten Herstellern von Mobiltelefonen weltweit. Dann verpassten die Münchner wichtige Trends, waren nicht schnell genug, die Produktion in Deutschland war zu teuer, es gab viele Probleme und hohe Verluste. 2005 wurde die Handysparte an den taiwanischen BenQ-Konzern verkauft, ein Jahr später ging das Geschäft in Insolvenz und wurde endgültig abgewickelt. Siemens-Handys waren plötzlich Geschichte.
Von einem schweren Rückschlag für die deutsche Wirtschaft war damals die Rede. Auch andere europäische Produzenten wie Nokia - die Finnen waren einst sogar Weltmarktführer - oder Alcatel verschwanden ziemlich schnell. Mobiltelefone und Smartphones kommen heute vor allem von chinesischen und südkoreanischen Anbietern und vom US-Konzern Apple, der aber ebenfalls in Asien produzieren lässt. Europa spielt, wenn überhaupt, nur noch als lukrativer Absatzmarkt eine Rolle.
Nicht viel besser ist es bei der Technik für die mobilen Kommunikationsnetzwerke gelaufen. Auch hier waren europäische Anbieter, darunter auch Siemens, zusammen mit amerikanischen Anbietern wie Cisco oder Motorola einmal weltweit führend. Doch auch sie haben in atemberaubend kurzer Zeit den Anschluss verloren. Asiatische Unternehmen waren schneller, billiger und innovativer. 2007 gründete Siemens mit Nokia ein Gemeinschaftsunternehmen für den Bau von Telekommunikationsnetzwerken - und stieg 2013 ganz aus. Viele der hoch spezialisierten Siemens-Mitarbeiter gerade am Standort München wechselten zum Huawei-Konzern. Inzwischen sind die Chinesen einer der größten Anbieter von mobilen Netzwerken, von Huawei kommt die Schlüsseltechnologie für den Aufbau der schnellen 5G-Mobilfunknetze. Aufträge an Huawei aber sind umstritten, in den USA und in Europa wird vor Industriespionage sowie einem möglichen Einfluss des chinesischen Staates auf das Unternehmen gewarnt. Doch nicht nur der Vodafone-Weltchef Nick Read warnt davor, auf Huawei zu verzichten. Nach einer Konzentrationswelle gäbe es jetzt nur noch drei große Netzwerkausrüster. Wenn man lediglich auf zwei von ihnen zugreifen könnte - das sind die europäischen Unternehmen Ericsson und Nokia - wäre das schlecht für Innovationen und Versorgungssicherheit, sagt Read.
Europa produziert überhaupt keine Computer mehr
Ähnlich wie im Mobilfunk hat Europa auch in der Solarindustrie inzwischen das Nachsehen. Einst wurde massiv in die Produktion von Solaranlagen investiert, auch dank staatlicher Förderung, die den Ausbau der Sonnenenergie unterstütze. Inzwischen aber ist die Herstellung nach Asien abgewandert, deutsche und europäische Anbieter sind verschwunden oder an den Rand gedrängt. Nicht viel anders sieht es bei der Produktion von Batterien aus, etwa für Elektrofahrzeuge. Auch die erfolgt vor allem in Asien. Inzwischen haben zwar die europäischen Autohersteller erkannt, dass bei E-Autos ein wichtiger Teil der Wertschöpfung auf die Batterie entfällt, wie wichtig dieser Bereich also ist. Doch der Aufbau einer nennenswerten Batterieproduktion in Europa oder in Deutschland lässt sich nicht schnell verwirklichen. Die Liste der europäischen Einbußen lässt sich lange fortsetzen. Fernsehgeräte etwa kommen heute in der Regel aus Asien, vorbei die Zeiten, als Grundig in Nürnberg einer der großen Hersteller war. Es gibt nur noch den Namen, aber keine Produktion mehr in Deutschland. Computer werden hierzulande bald nicht mehr produziert, vor wenigen Monaten hat der japanische Fujitsu-Konzern die Schließung des Standorts Augsburg verkündet, es ist das letzte PC-Werk in Europa. Und Versender wie Quelle oder Neckermann mussten sich Amazon geschlagen geben.
Hätte eine aktive Industriepolitik den Strukturwandel verhindert? Wohl kaum. Immerhin: Es kommt auch Produktion zurück. Infineon baut gerade im österreichischen Villach für 1,6 Milliarden Euro ein neues Halbleiterwerk.