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Europa reagiert auf Rating-Warnung:"Hier scheint mir Irrationales am Werk"

Ein Kontinent steht unter Schock. Politiker kritisieren die Warnung der Ratingagentur Standard & Poor's, die Bonität fast aller Euro-Staaten herabzustufen, als völlig überzogen. Rufe nach mehr Kontrolle der Agenturen werden laut, die Börsen sacken ab. Kanzlerin Merkel gibt sich entspannt, S&P schickt seinen Europa-Chefanalysten ins Fernsehen.

Jetzt droht auch den Musterknaben die Rute. In der Nacht zum Nikolaustag hat die große Ratingagentur Standard & Poor's (S&P) die Bewertung Deutschlands auf negativen "Creditwatch" gestellt. Das Land steht nun unter Beobachtung mit der Möglichkeit einer Herabstufung der Kreditwürdigkeit. Als Grund nannten die Analysten die verschärfte Krise der Gemeinschaftswährung. Politiker reagieren wütend, die Börsen geben nach.

Zur drohenden Herabstufung der Kreditwürdigkeit Deutschlands sagte Kanzlerin Angela Merkel, was eine Ratingagentur mache, liege in deren Verantwortung. Sie bekräftigte ihren Willen zu einem grundlegenden Umbau der Währungsunion: "Wir werden am Donnerstag und Freitag die Entscheidungen treffen, die wir für die Euro-Zone für wichtig und unabdingbar halten." Merkel und der französische Präsident Nicolas Sarkozy hatten am Montag in Paris ihre Ideen vorgestellt, Staaten härter und konsequenter zu bestrafen, wenn sie die Defizitgrenze von drei Prozent überschreiten, und den dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM schon 2012 statt 2013 einzusetzen. Ende der Woche wird beim EU-Gipfel in Brüssel über diese Vorschläge verhandelt.

Finanzminister Wolfgang Schäuble forderte rasche Schritte, damit Europa das Vertrauen an den internationalen Finanzmärkten zurückgewinnt. Beim bevorstehenden EU-Gipfel müssten überzeugende Entscheidungen zur Schaffung einer Stabilitätsunion fallen, sagte der CDU-Politiker. Die angedrohte Herabstufung der Bonitätsnoten mache dies deutlich. Doch selbst wenn es auf dem Gipfel gelinge, wichtige Schritte für ein stabileres Europa zu unternehmen, werde es dauern, bis die Euro-Zone das Vertrauen der Märkte wieder zurückgewinne, räumte Schäuble ein.

Der Chef der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker kritisierte die drohende Herabstufung der Bonität Deutschlands und 14 anderer Staaten der Währungsunion. Die Entscheidung, fast die gesamte Euro-Zone mit negativem creditwatch zu versehen, sei "maßlos überzogen und auch ungerecht", sagte Luxemburgs Ministerpräsident im Deutschlandfunk. Vor dem Hintergrund der Sparprogramme in der Euro-Zone wirke die Prüfung der Bonität "wie ein Keulenschlag". Der Schritt sei völlig überzogen und komme zur Unzeit, sagte Juncker. Dass die Agentur kurz vor dem EU-Gipfel Ende der Woche "aus blauem Himmel" vorpresche, könne kein Zufall sein.

Zur Warnung S&Ps an sein Heimatland Luxemburg, dessen Schuldenstand gerade mal bei 20 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes liege, sagte Juncker: "Hier scheint mir Irrationales am Werk."

Innerhalb von 90 Tagen will S&P nun prüfen, ob Staatsanleihen des Landes die bisherige Spitzennote Triple-A verlieren. Gleiches gilt auch für den Rest von Europas exklusivem AAA-Club. Auch den creditwatch für Frankreich, Finnland, Österreich und die Niederlande stufte die Agentur auf "negativ" herab.

Der französische Finanzminister François Baroin sagte dem Sender France 3: "Wir benötigen keinen dritten Sparplan. Wir brauchen keine weiteren Maßnahmen. Wir müssen die Koordinierung der europäischen Politik verstärken." Frankreich müsse auch keine öffentlichen Gelder in die Banken pumpen. Die Ratingagentur habe bei ihrer Einschätzung nicht die französisch-deutschen Pläne zur Bewältigung der Schuldenkrise einbezogen. Die Regierungen Frankreichs und Deutschlands nahmen in einer gemeinsamen Erklärung die Neubewertung durch die Agentur "zur Kenntnis" und verkündeten, dass sie an ihren neuen Plänen zum Umbau Europas festhalten wollten.

Nachdenklicher als Baroin äußerte sich der französische Außenminister Alain Juppé. Er sagte dem Radiosender RTL, das Land müsse größere Anstrengungen als andere Länder unternehmen, wenn es sein AAA-Rating behalten wolle. "Es ist eine Drohung, aber es ist keine Entscheidung. Es versteht sich, dass sie ernst genommen werden muss." Die Fragen, die sich die Ratingagentur Standard & Poor's hinsichtlich der wirtschaftspolitischen Steuerung des Euro-Raums stelle, würden durch die deutsch-französische Initiative beantwortet.

Auf dem Bundesparteitag der Sozialdemokraten ging der frühere Bundesfinanzminister und mögliche SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück auf den Einfluss von Ratingagenturen und Finanzmärkten ein. "Bei wem liegt eigentlich der Taktstock des Geschehens?", fragte er bei seiner Rede in Berlin.

Auch die Börsen reagierten: Der wichtigste deutsche Aktienindex Dax verlor in Frankfurt zwischenzeitlich mehr als ein Prozent, erholte sich dann aber wieder etwas. Zuvor hatten auch die Handelsplätze in Asien mit Verlusten geschlossen, zu einem dramatischen Kursrutsch kam es jedoch nicht.

Der Vorsitzende der CSU-Mittelstandsunion, Hans Michelbach, forderte umgehend nach Bekanntwerden der Aktion von S&P Konsequenzen. Er sprach von einer "willkürlichen Entscheidung ohne Bezug zur Wirklichkeit". Ziel der Ankündigung sei es ganz offenbar, im Vorfeld des EU-Gipfels zusätzliche Nervosität zu erzeugen. Der CSU-Politiker forderte eine härtere Gangart der EU gegen das "unkontrollierte Spiel" der Agenturen. Die Abschwächung des europäischen Regelwerks für Ratingagenturen müsse wieder rückgängig gemacht werden. Michel Barnier, EU-Kommissar für den Binnenmarkt, wollte die Macht der Agenturen beschränken. Er musste allerdings seine radikalsten Vorschläge wieder aufgeben, wie ein Verbot von Neubewertungen überschuldeter Staaten.

Barnier, eienr der größten Kritiker der Agenturen, gab sich denn auch unbeeindruckt: "Das ist nur eine Meinung von vielen", sagte der Franzose zu der Warnung. Reform und Bewältigung der Krise gingen voran. "Europäische Entscheidungsträger haben nicht auf Standard & Poor's oder andere Ratingagenturen gewartet, um zu handeln."

Entrüstung haben die Verantwortlichen bei der Ratingagentur wohl kommen sehen. Standard & Poor's schickte seinen Europa-Chefanalysten Moritz Kraemer ins Fernsehen, um die Androhung der Bonitätsabwertung für 15 Länder zu verteidigen. Im ARD-Morgenmagazin warnte er explizit vor einer Rezession: "Die Entscheidung, die Ratings der Staaten in der Euro-Zone mit einem credit watch zu versehen, hängt damit zusammen, dass nach unserem Dafürhalten die Risiken, die von der derzeitigen Krise ausgehen, in den kommenden Wochen deutlich steigen könnten." Kraemer sprach von einer systemischen Vertrauenskrise. Sie sei nicht beschränkt auf einzelne Länder, sondern habe sich immer näher an den Kern der Währungszone gefressen. Eine gesamteuropäische Lösung sei nötig. Dass die Zinsen für die deutschen Bundesanleihen zuletzt gestiegen seien, habe nichts mit der Entscheidung seiner Agentur zu tun.

Die Botschaft der mächtigen Analysten ist klar: Finnland, Österreich, Deutschland - niemand ist mehr sicher. Die Vertrauenskrise betrifft ganz Europa, auch jene Staaten stehen auf der Liste, in denen vergangene Woche sogar noch über "Elite-Bonds" nachdacht wurde. Je schlechter das Rating der großen Ratingagenturen S&P, Moody's und Fitch, umso schwieriger ist es auch für diese Staaten, sich zu niedrigen Zinsen Geld zu leihen. Griechenland, Portugal und Irland haben das schon hinter sich.

Erstmals steht die makellose Bonität Deutschlands somit in Frage. Im Gegensatz zu den überschuldeten südeuropäischen Staaten oder Irland galten Anleihen der Triple-A-Staaten bisher unter Investoren trotz Krise noch als sichere Geldanlagen. Das könnte sich nun ändern.

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