sueddeutsche.de: Schon in Ihren Verhandlungen haben Sie sich ja damit auseinandersetzen müssen, was geschieht, wenn ein Land der Eurozone die Kriterien des Stabilitätspaktes nicht mehr erfüllt. Griechenland ist nicht das einzige Land, dessen Verschuldung und Haushaltsdefizit jenseits des Erlaubten liegen. War eine solche Entwicklung nicht vorhersehbar?
"Man hat den Stabilitäts- und Wachstumspakt in einen Betrugs- und Lügenpakt verwandelt", sagt Frankreichs früherer Finanzminister und heutiger Finanzausschuss-Vorsitzender, Jean Arthuis
(Foto: AFP)Waigel: Griechenland hat betrogen. Das ist schlimm. Und Europa hat nicht genügend kontrolliert. Die Länder, auch Deutschland und Frankreich, haben der Statistikbehörde Eurostat keine ausreichenden Möglichkeiten zur Kontrolle eingeräumt. Das Problem liegt nicht im Vertrag von Maastricht oder im Stabilitätspakt, sondern an den Fehlern der handelnden Personen, Regierungen und Kommission danach.
Arthuis: Im Namen der nationalen Souveränität haben sie gesagt: die Staatshaushalte sind in Ordnung. Ein großer Irrtum. Ein politischer Fehler. Man wusste genau, dass das statistische Amt in Griechenland dem Finanzminister unterstellt war, es war überhaupt nicht unabhängig. Man hat den Stabilitäts- und Wachstumspakt in einen Betrugs- und Lügenpakt verwandelt.
sueddeutsche.de: Die Folge ist eine Vertrauenskrise. Die Menschen misstrauen den europäischen Institutionen. Und die Finanzmärkte sind tief verunsichert. Wie lässt sich das verlorene Vertrauen wiedergewinnen?
Arthuis: Das Wichtigste ist, die Kontrolle zu verstärken. Wir müssen Eurostat mit ständigen Überwachungsmöglichkeiten ausstatten, um zu überprüfen, ob die Finanzberichte der Euroländer wirklich stimmen. Es geht um einen Vertrauenspakt. Wir müssen jederzeit über die tatsächliche Lage der einzelnen Staaten Bescheid wissen.
Waigel: Man kann nicht sagen, Deutschland und Frankreich dürfen nicht kontrolliert werden, aber Griechenland und Portugal schon. Kontrollen müssen überall möglich sein. Und wer ordentlich wirtschaftet, braucht davor auch keine Angst zu haben.
sueddeutsche.de: Mehr Kontrolle allein reicht kaum aus, um die gegenwärtige Notlage Europas zu lösen. Viele Länder haben nicht ordentlich gewirtschaftet - und drohen nun an ihren Schulden zu ersticken. Wer rettet die Staaten?
Waigel: Dazu gibt es nur einen Weg, nämlich den einer konsequenten Konsolidierung und der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Was Angela Merkel und Nicolas Sarkozy beschlossen haben, sind richtige Schritte. Aber das reicht noch nicht aus. In der Verfassung verankerte Schuldenbremsen sind in allen Ländern der Eurozone notwendig. Ebenso, dass die Länder mehr als bislang für ihre Wettbewerbsfähigkeit tun.
Arthuis: Ziel muss es sein, ausgeglichene Haushalte zu erreichen und die hohe Verschuldung abzubauen. Dafür brauchen wir äußerst mutige strukturelle Reformen, die den nationalen Regierungen viel abverlangen. Nötig ist auch eine effektivere Regulierung der Finanzmärkte. Ich bin erstaunt, dass wir nichts unternommen haben, um etwa den Handel mit Kreditausfall-Versicherungen, den CDS, zu beschränken. Denn diese Finanzprodukte beschleunigen die Spekulation.