Der demokratiefressende Kapitalismus, die wachsende Dominanz der Exekutive, die Schwächung des Parlaments: Was derzeit in demokratietheoretischen Diskursen behandelt wird, lässt sich bei zwei Anhörungen des Bundesverfassungsgerichts am praktischen Beispiel besichtigen.
In beiden Fällen geht es um die hektischen Aktivitäten zur Stabilisierung des Euro, um eilige Entscheidungen über Milliardenbeträge. Und darum, dass eine umfassende Beteiligung des gesamten Parlaments - sonst gewiss erwünscht - in diesen Situationen nun wirklich nicht möglich sei.
Der SPD-Abgeordnete Peter Danckert, seit 1998 im Bundestag, beobachtet seit Jahren, "dass die Regierung versucht, unsere Rechte klein zu machen". Nun war es genug. Deshalb hat er mit dem Parlamentskollegen Swen Schulz (SPD) in Karlsruhe geklagt, an diesem Dienstag wird verhandelt. Danckert wendet sich gegen den Neuner-Ausschuss, ein neu geschaffenes Gremium für eine schnelle und diskrete Bundestagsbeteiligung im Umgang mit dem vorläufigen Euro-Rettungsschirm EFSF.
Eine Beteiligung, die aus Sicht der Kritiker Alibi-Charakter hat: Neun Abgeordnete sollen im Eilfall - der bei drohender Ansteckung zwangsläufig vorkommt - Kreditlinien erweitern oder Staatsanleihen aufkaufen dürfen. Finanzrahmen: Bis zu 211 Milliarden Euro. Für die Mehrheit im Ausschuss reichen fünf Abgeordnete, und wenn einige von ihnen gerade fehlen, schrumpft die demokratische Basis der Milliarden-Entscheidungen womöglich auf drei oder vier - es gibt weder eine Vertretungsregelung noch ein Quorum.
Was der Zweite Senat unter Vorsitz von Andreas Voßkuhle davon hält, hat er in einer Einstweiligen Anordnung zu erkennen gegeben: Er hat das Gremium stillgelegt. Eine vorläufige Entscheidung, gewiss. Doch was der Senat im Rettungsschirm-Urteil vom 7. September zur Haushaltsverantwortung des Bundestags gesagt hat, klingt nicht danach, als wolle er einen winzigen, von der Regierung leicht zu dominierenden Ausschuss mit wichtigen Aufgaben rund ums Budget betraut sehen.
Der Bundestag müsse eigenverantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entscheiden, "auch im Hinblick auf internationale und europäische Verbindlichkeiten". Das Gericht hat dem Haushaltsausschuss eine maßgebliche Rolle zugebilligt - der hat 41 Mitglieder und bildet das Parlament sehr viel differenzierter ab als der Ausschuss.
Noch deutlicher illustriert der zweite Fall vor dem Verfassungsgericht, wie die Euro-Retter in ihrer "alternativlosen" Mission an den Abgeordneten vorbei agieren. Es geht um den permanenten Rettungsschirm ESM sowie den "Pakt für Wettbewerbsfähigkeit". Geklagt haben die Grünen - nicht gegen die Maßnahmen selbst, sondern gegen die Missachtung parlamentarischer Informationsrechte. Frühzeitig hatten Abgeordnete bei der Regierung relevante Dokumente angefordert, um nicht wieder von den Ereignissen getrieben zu sein. Ohne Erfolg.
Die Regierung rückte nichts heraus - auch nicht nach der Einigung des Europäischen Rates Ende März, ebenso wenig nach Herstellung erster Textfassungen des Vertrags; nach Ansicht der Grünen sei dies am 6. April der Fall gewesen. Erst am 17. Mai übermittelte die Regierung den Vertragsentwurf - da kannten ihn die Parlamentarier bereits. Kollegen aus Österreich hatten geliefert.
Viel spricht dafür, dass auch diese Klage Erfolg haben könnte. Die Verfassungsrichter stehen parlamentarischen Auskunftsbegehren positiv gegenüber. So hat das Gericht 2009 den Abgeordneten grundsätzlich das Informationsrecht über ihre mögliche Bespitzelung durch Geheimdiente zugebilligt.
Und wenn es um Europa geht, rückt der Bundestag ohnehin stärker ins Zentrum höchstrichterlicher Fürsorge. In Urteilen zu den Verträgen von Maastricht (1993) und Lissabon (2009) schützte Karlsruhe die Volksvertreter vor der Unterhöhlung zentraler Befugnisse, beim EU-Haftbefehl (2005) forderte es mehr parlamentarischen Mut gegen Vorgaben der EU, und beim jüngsten Spruch zum Rettungsschirm achtete es darauf, dass das "Königsrecht" des Parlaments - die Budgethoheit - sich nicht in Haftungszusagen auflöst.
Diesmal könnte das Gericht sein Augenmerk auf einen bestimmten Mechanismus richten. Die Regierung hatte den Grünen zeitweise erklärt, der ESM sei keine "Angelegenheit der EU", für die das parlamentarische Informationsrecht des Europa-Artikels 23 gilt, sondern nur ein "zwischenstaatliches Instrument der Mitgliedsstaaten der Euro-Zone". Das mag formal stimmen. Trotzdem klingt es wie ein Trick.
Im Urteil zum Rettungsschirm hatte das Gericht anklingen lassen, der Bundestag müsse die Kontrolle über grundlegende haushaltspolitische Entscheidungen behalten, "auch in einem System intergouvernamentalen Regierens". Gemeint ist die Neigung wichtiger Regierungen Europas, rasch untereinander etwas zu beschließen, um bei Finanzmärkten Eindruck zu machen.