Euro-Krise:Warum Deutschland eine historische Führungspflicht hat

Es ist nicht übertrieben, die Euro-Krise die schwierigste Herausforderung nach dem Zweiten Weltkrieg zu nennen. Deutschland muss bei ihrer Bewältigung die Führung übernehmen - das Land steht moralisch, historisch und verfassungsrechtlich in der Pflicht. Doch Kanzlerin Merkel sollte aufpassen: Der Euro krankt nicht nur an den Schulden Südeuropas.

von James D. Bindenagel

Die Euro-Krise erinnert an zwei europäische Flächenbrände, die je drei Jahrzehnte dauerten: an den Dreißigjährigen Krieg von 1618 bis 1648 und an die beiden Weltkriege zwischen 1914 und 1945. Beide Male stand Deutschland im Zentrum, beide Kriege verwüsteten Europa und die Welt. Auch die gegenwärtige Euro-Krise entscheidet sich in Deutschland, und für die Europäische Union ist sie existenzbedrohend. "Fällt der Euro, fällt Europa", hat Bundeskanzlerin Angela Merkel gesagt; die Herausforderung sei die schwierigste seit dem Zweiten Weltkrieg. Eine Übertreibung ist das nicht.

Euro-Krise: Sie muss den Weg weisen - Bundeskanzlerin Merkel steht in der Euro-Krise in der Pflicht.

Sie muss den Weg weisen - Bundeskanzlerin Merkel steht in der Euro-Krise in der Pflicht.

(Foto: AFP)

Der Westfälische Frieden 1648 brachte einen Vertrag, der die Unverletzlichkeit staatlicher Souveränität begründete; er bestimmte für vier Jahrhunderte die internationalen Beziehungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen bestimmend. Nun ist Europa mit der Euro-Krise konfrontiert - und da bekommen die Deutschen überraschenden Beistand vom polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski, der die Euro-Krise mit Kriegen vergleicht.

In seiner Berliner Rede am 28. November erinnerte Sikorski an ein Gespräch mit dem einstigen Vorsitzenden der kroatischen Staatsbank in Jugoslawien. Der Banker erzählte, wie das serbische Parlament zu Beginn der neunziger Jahre dafür stimmte, eigenmächtig große Mengen der gemeinsamen Währung Dinar zu drucken. Er sagte zu Sikorski: "Das war das Ende von Jugoslawien. Als die Dinar-Zone zusammenbrach, brach Jugoslawien zusammen." Das entsetzliche Schicksal Jugoslawiens, fügte er hinzu, erinnere daran, dass Geld, so sehr es ein technisches Instrument sein möge, doch auch Einheit oder Trennung symbolisiere.

Sikorski zitierte den deutschen Philosophen Jürgen Habermas: "Scheitert das europäische Projekt, bleibt die Frage, wie lange es dauern wird, bis der Status quo wieder erreicht sein wird. Erinnern wir uns an die deutsche Revolution von 1848: Ihr Scheitern kostete 100 Jahre, bis derselbe Grad an Demokratie wieder erreicht war." An Angela Merkel gerichtet, fügte Sikorski hinzu: "Ich fürchte die Macht der Deutschen weniger, als ich die deutsche Untätigkeit zu fürchten beginne. Sie sind für Europa unverzichtbar geworden. Sie dürfen nicht versäumen zu führen. Nicht zu dominieren - aber zu führen bei den Reformen."

Ob die EU langfristig ein Erfolgsmodell wird, hängt davon ab, wie sehr Europas Politiker zur politischen Einheit bereit sind. Deutschland muss hierbei vorangehen. In der Geschichte ist eher das Scheitern die Regel gewesen: Pierre Werners Versuch von 1970, eine Wirtschafts- und Währungsunion zu schaffen, scheiterte an mangelndem politischen Willen.

Woran der Euro krankt

Für den zweiten Versuch trafen sich Europas Regierungschefs 1978 in Bremen. Die Sparmaßnahmen der US-Regierung von Jimmy Carter hatten die Weltwirtschaft auf einen Sinkflug geschickt, und die Europäer versprachen sich von einem Europäischen Währungssystem Schutz vor der Unbeständigkeit des Dollar. Für Helmut Schmidt ging es dabei um weit mehr als nur um einen Währungsblock - es ging um die Zukunft Deutschlands in Europa. In den achtziger Jahren führten Helmut Kohl und Frankreichs Präsident François Mitterrand die Diskussion fort. Mitterrand verquickte das deutsche Interesse an einer Wiedervereinigung mit dem europäischen Interesse an einer gemeinsamen Währungspolitik: 1983 unterstützte er Kohls Wunsch, amerikanische Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren. Im Gegenzug erwartete Frankreich Deutschlands Unterstützung beim Aufbau einer europäischen Währungspolitik.

Nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 rückte das Projekt einer Währungsunion für Kohl in den Hintergrund, doch Mitterrand wollte die Deutschen nun mit Hilfe genau dieses Instruments in Europa einbinden. An Kohl gerichtet, sagte er: "Ohne eine gemeinsame Währung sind wir alle ... dem deutschen Willen unterworfen." Mitterrand verlangte von Kohl, bis spätestens Ende 1990 in "ernsthafte Verhandlungen" über eine Währungsunion einzutreten und drohte damit, Deutschland werde anderenfalls, wie schon vor den beiden Weltkriegen, durch eine Dreier-Allianz aus Frankreich, Großbritannien und der Sowjetunion isoliert werden.

Bei den Verhandlungen über die Wiedervereinigung sagte Kohl dem US-Außenminister James Baker, er werde die Währungsunion mittragen, "obwohl sie nicht im deutschen Interesse ist." Nach der Wiedervereinigung wurde der Plan für einen gemeinsamen Binnenmarkt und eine Währungsunion im Vertrag von Maastricht festgeschrieben, und der neu gefasste Artikel 23 des Grundgesetzes verpflichtete Deutschland fortan zur europäischen Integration.

In den vergangenen beiden Jahrzehnten nun hat das wiedervereinigte Deutschland akzeptiert, dass es Verantwortung trägt für die gemeinsame Währungspolitik. Deutschland steht zweifellos in der Pflicht - verfassungsrechtlich, historisch und moralisch. Ohne eine Lösung der aktuellen Krise droht eine Wiederauferstehung nationaler Interessenspolitik auf Kosten europäischer Institutionen. Gewiss hängt nun viel von privaten Investoren und der Europäischen Zentralbank ab; gewiss ist die Gestaltungsmacht der Politik beschränkt. Nichtsdestotrotz kommt der deutschen Politik in diesem Stück die Hauptrolle zu. Die Augen der Welt richten sich auf Berlin.

Deutschlands Lösungsvorschläge zielen derzeit vor allem auf strenge Sparvorgaben und gesetzlich festgeschriebene Schuldenbremsen ab, was die Märkte allerdings kurzfristig nicht beeindrucken wird und die Lage langfristig sogar eher verschlimmern könnte. Der Euro krankt nicht nur an den Schulden Südeuropas, sondern auch an den Handelsbilanzüberschüssen der wirtschaftsstarken Staaten - insbesondere Deutschlands.

Wenn selbst der bekennende Euro-Skeptiker Martin Feldstein in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift Foreign Affairs einräumt, dass die Euro-Gruppe diese Krise wohl vollzählig überstehen wird, dann können Europas Regierungschefs sicherlich den Mut finden, Staaten mit derart unterschiedlicher Produktivität und Besteuerung in einer echten Fiskalunion zu vereinen. Eine solche Einigung würde den Weg in ein noch stärker integriertes Europa weisen.

James D. Bindenagel, 62, war in den 90er Jahren US-Diplomat in Deutschland, zuletzt Sonderbotschafter, und ist heute Vizepräsident der DePaul Universität in Chicago.

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