Euro-Jubiläum im Baltikum:Estlands verflixtes erstes Jahr

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Ein Jahr Euro in Estland: Der Finanzminister, den sie das Krokodil nennen, freut sich über rasantes Wachstum und in der Schuldenkrise ist das Land ein Verbündeter Deutschlands. Doch das Volk klagt über hohe Preise.

Matthias Kolb, Tallinn

Selten verbrachte Feliks Mägus so viel Zeit in der Lobby seines Designhotels wie in diesem Jahr. Wann immer der Manager an der Rezeption die Zahlen prüfte, war das Nordic Forum am Rand der Altstadt von Tallinn gut gebucht. "2011 war ein Rekordjahr für Estlands Tourismusbranche", sagt Mägus, der Chef des Hotel- und Gaststättenverbands. Bis Oktober reisten mehr als 1,5 Millionen Touristen an die Ostsee, darunter fast 100.000 Deutsche. Seit Estland im Januar 2011 den Euro eingeführt hat, müssen Ausländer keine Estnischen Kronen tauschen. Sie können Preise besser vergleichen. Die Balten profitieren vom Image als Euro-Musterschüler: "Viele Gäste wollen das Land sehen, das in der Krise alle Regeln einhält", so Mägus.

Gute Stimmung in Tallinn - und das nicht nur bei der Eröffnung eines Treffens junger Chöre in diesem Sommer. Seit Estland Anfang 2011 den Euro eingeführt hat, gilt es als ein Vorbild für Staaten wie Griechenland und Italien. (Foto: AFP)

Im achten Stock des Finanzministeriums wacht Jürgen Ligi über die Einnahmen und Ausgaben des estnischen Staats. Der 52-Jährige kennt die vielen Medienbeiträge, die Estland mit seinen 1,4 Millionen Einwohnern als Gegenstück zu Griechenland, Italien und Portugal präsentieren. Mit 6,6 Prozent hat die Baltenrepublik die niedrigste Staatsverschuldung aller Euro-Mitglieder. Die Zentralbank hat für 2011 ein Wirtschaftswachstum von 7,9 Prozent errechnet.

Finanzminister Ligi gibt sich im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung zufrieden: "Die Regierung hat es nie bereut, der Eurozone beigetreten zu sein. Das Vertrauen des Auslands in Estland ist gestiegen und wurde nicht enttäuscht." Allein in der ersten Jahreshälfte überwiesen Investoren mehr als 850 Millionen Euro nach Estland.

Kopfzerbrechen bereitet Ligi die Schuldenkrise: Obwohl die Probleme in Großbritannien und den USA nicht weniger gravierend seien, stehe leider die Eurozone im Fokus. Angst vor zu viel Einfluss der Deutschen hat er nicht: "Ich fürchte eher, dass die deutsche Dominanz zu schwach ist."

Ligi sieht Bundeskanzlerin Angela Merkel als Verbündete und fordert Berlin auf, "mutig für Haushaltsdisziplin einzutreten". Für Ligi und Ministerpräsident Andrus Ansip ist Fiskaldisziplin entscheidend für das Image eines Staates. Anders als Lettland zahlte Estland in den Boomjahren mit zweistelligen Wachstumsraten zwischen 2000 und 2007 seine Überschüsse in einen Stabilisierungsfonds ein, der ein Neuntel des Bruttoinlandsprodukts umfasst.

Als Estlands Wirtschaft 2009 um 14 Prozent einbrach, erhöhte Ansip die Steuern und kürzte den Staatshaushalt, um den Maastricht-Vertrag und die Kriterien für die Euro-Einführung zu erfüllen. Trotz des Sparkurses und einer Arbeitslosigkeit von knapp 14 Prozent wurde seine Reformpartei im März als stärkste politische Kraft bestätigt. Der Lohn für den stets modisch gekleideten Ligi: Das Magazin The Banker kürte ihn 2010 zum Finanzminister des Jahres. Er bekam den Spitznamen Krokodil verpasst, weil er so vehement für Kürzungen warb.

Nun gehört Sparsamkeit zum Markenkern Estlands, das sich zuvor als "E-Stonia" präsentiert. In Tallinn wurde der Internet-Telefondienst Skype erfunden, den Microsoft für 8,5 Milliarden Dollar gekauft hat, und schon 1997 wurden alle Schulen ans World Wide Web angeschlossen und eine schlanke Verwaltung aufgebaut. Heute werden 93 Prozent aller Steuererklärungen online abgegeben, Bustickets per Handy bezahlt und der Staat hat den Zugang zum Internet als Menschenrecht festgeschrieben.

Der Internet-Unternehmer Priit Vimberg ist typisch für Estlands Start-Up-Szene. Mit 22 Jahren gründete er eine Firma, die Kaffeeautomaten importierte. Als sie Marktführer war, verkaufte er und stieg bei IT-Projekten ein. Nun konzentriert sich der 36-Jährige auf Yoga Systems: Die Firma bietet Hausbesitzern an, per Browser, Smartphone oder Fernseher die Temperatur zu verändern, Fenster zu öffnen oder Rollos herunterzulassen. 40 Prozent der Energiekosten ließen sich einsparen, sagt Vimberg, der sein Produkt 2012 mit einer Telekom-Firma in Skandinavien auf den Markt bringt. In Indien, den Arabischen Emiraten und Amerika hat Yoga Systems Büros.

Vimberg ist ein Euro-Fan: "Bisher war es schwer, als estnische Firma Zugang zu Investoren zu finden, weil viele unser Land nicht kannten." Da die Krone fest an die D-Mark und später an den Euro gekoppelt war, hat der Beitritt für Vimberg vor allem Symbolwert. "Der Euro war ein Ritterschlag. Die Leute merken, wie verlässlich wir sind", meint er. Griechen und Portugiesen fordert er zum Sparen auf: "Ihre Regierungen dürfen nicht mehr ausgeben als sie einnehmen."

Mit dem estnischen Modell einer Einheitssteuer lasse sich Steuerhinterziehung verhindern, da es keine Schlupflöcher gebe. Solange der Mindestlohn im Baltikum mit 1,80 Euro pro Stunde viel geringer sei als in Südeuropa, sieht er die Garantien für den Euro-Rettungsschirm EFSF kritisch.

Finanzminister Ligi weiß, viele Bürger denken ähnlich. Dennoch hält er es für richtig, dass das Parlament im Herbst der Beteiligung am EFSF zugestimmt hat und Estland im Ernstfall mit bis zu 1,995 Milliarden Euro haftet. "Aus deutscher Sicht ist das wenig, aber im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt garantiert kein Euro-Land für eine höhere Summe", so Ligi. Anders als in Finnland ist in Estland keine europaskeptische Partei entstanden.

Während Ältere der eigenen Währung nachtrauern, sind die Jüngeren solidarischer: Sie wissen, dass ihr Land über die EU-Strukturhilfen mehr Geld erhält als es nach Brüssel überweist. Für Unmut sorgen die hohen Lebenshaltungskosten: Oft wurden die Preise vor der Euro-Einführung erhöht und später aufgerundet. Da die Löhne stagnieren, wirkt die Teuerungsrate von 4,7 Prozent umso stärker - im Oktober stiegen die Preise EU-weit nur in Großbritannien schneller.

Viele Bürger dachten, dass der Euro die Inflation eindämmen würde", sagt Rainer Kattel von der Technischen Universität Tallinn. Den Politologen wundert, dass seine Landsleute den neoliberalen Kurs der Regierung klaglos akzeptieren. Weder Medien noch Gewerkschaften seien stark genug, um eine Diskussion darüber auszulösen, wie etwa die russischsprachige Minderheit besser integriert werden könnte. Oder ob der magere Sozialstaat nicht ausgebaut werden sollte. Es gelinge der liberal-konservativen Regierung gut, ihr Vorgehen als alternativlos darzustellen - und die Mehrheit der Wähler vertraue dem Staat.

Für den 37-jährigen Kattel entwickelt sich Estlands Politikstil zum Modell für andere Länder der Region: "Es dominiert der Pragmatismus. Es werden Ziele vorgegeben, denen alles untergeordnet wird." Die Politiker seien auf Zahlen fixiert - über eine Zukunftsvision werde nicht diskutiert. Kattel bilanziert skeptisch: "Es ist für ein Land nicht gut, wenn die politischen Eliten Debatten als überflüssig erachten."

Immer mehr junge Esten antworten auf ihre Art: Die Zahl der Geburten ist rückläufig und viele Akademiker suchen im Ausland nach Jobs. Experten schätzen, dass allein in Skandinavien 100.000 Esten arbeiten. Auch die Tochter von Hotelmanager Feliks Mägus hat ihre Heimat für ein Studium verlassen. Sie wisse noch nicht, ob sie zurückkomme, meint der Vater. Nachdenklich sagt er: "Es ist nicht schlimm, wenn junge Leute im Ausland Erfahrungen sammeln. Aber wir haben ein Problem, wenn sie zu Hause keine Perspektive mehr sehen."

© SZ vom 30.12.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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